Leben mit Martin (52)

„Na, es ging doch auch ohne Durant“, sagte Carsten, als Claudine ihm am Mittwoch die fertige Übersetzung auf den Schreibtisch legte.
„Wie du schon sagst, es ging. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit ihm ein paar Tage hätte zusammenarbeiten können“, entgegnete Claudine.
Der Gedanke gefiel ihr nicht, Carsten könnte ernstlich glauben, es wäre auch in Zukunft nicht nötig, die Autoren nach Berlin einzuladen, um mit ihnen die Übersetzung zu besprechen. Aber Carsten tat ihr nicht den Gefallen, darauf einzugehen.
„Ich freue mich schon aufs Lesen“, sagte er. „Leider kommt gleich der Grafiker, und ich habe mir die Entwürfe für das Cover noch nicht mal angeschaut.“
Claudine fühlte sich entlassen und wollte schon aufstehen, als ihm doch noch etwas einfiel. „Hast du eigentlich schon mal Gedichte übersetzt?“
„Nicht seit der siebenten Klasse“, sagte Claudine.
Carsten bekam runde Augen. „Du hast in der Schule schon in der siebenten Klasse Gedichte übersetzt?“
„Nein, aber ich war zu der Zeit ein Teenager, der die neuesten Hits hörte, und meine Klassenkameradinnen ebenfalls. Wenn sie etwas nicht verstanden, baten sie mich, ihnen den ganzen Text zu übersetzen.“
„Ach, Schlagertexte.“ Carsten zeigte seine Enttäuschung offen.
„Bestimmte Formen der Lyrik sind fast nur noch in Liedtexten lebendig“, entgegnete Claudine.
„Und das wusstest du damals schon?“ wunderte sich Carsten.
„Nein, das habe ich erst später gelernt. Nur dass man nicht wörtlich übersetzen darf, wusste ich schon damals.“
„Darüber sollten wir uns unbedingt mal in Ruhe unterhalten.“
Carsten wühlte in einem Ablagekörbchen auf seinem Schreibtisch, dann zog er ein einzelnes Blatt heraus, das in einer Klarsichthülle steckte, und reichte es Claudine.
„Vielleicht versuchst du das mal. Es gehört zu einer Sache, an der Künzel gerade arbeitet. Er sagt, das hier könne er keinesfalls übersetzen, er sei schließlich kein Lyrikübersetzer.“
Es fehlte nicht viel, und Carsten hätte ihr zugezwinkert. Jedenfalls zuckte sein linkes Augenlid. Er wusste sehr wohl, dass die Herablassung, mit der Künzel Claudine behandelte, an Mobbing grenzte, beziehungsweise Mobbing gewesen wäre, hätte es sich bei Künzel um einen festen Mitarbeiter des Verlags gehandelt. Da er jedoch ein Freier war, konnte Carsten diesen ausgezeichneten Übersetzer weiterhin beschäftigen, ohne ihn zur Rede stellen zu müssen. Darüber hinaus wusste Claudine sich zu wehren, und auch das war Carsten nicht entgangen.
Brecht-Zitate rückwärts zu übersetzen schafft er ja wenigstens, hätte Claudine am liebsten gesagt und Carsten gesteckt, dass Künzel sich bei Barbara Ratschläge holte, auch wenn sein Auftraggeber ein anderer Verlag war. Aber sie ließ es und begnügte sich mit einem Grinsen als Antwort auf das angedeutete Zwinkern.
„Wie weit ist eigentlich deine Freundin mit Modiano?“ wollte Carsten wissen.
Claudine, die Türklinke schon in der Hand, überhörte geflissentlich, dass Carsten schon zum zweiten Mal die Freundschaft zwischen ihr und Barbara betont hatte.
„Ich habe keine Ahnung. Barbara und ich haben nicht darüber gesprochen. Du müsstest sie selbst fragen“, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen, denn auch ihr Interesse an Modiano wollte sie sich nicht anmerken lassen.
Dass sie von Barbara nichts Neues über Modiano gehört hatte, war nicht gelogen. Geschwindelt hatte sie allerdings, als sie sagte, sie habe seit der siebenten Klasse keine Lyrikübersetzungen gemacht. Carsten hätte sie dieser Lüge leicht überführen können – zumindest anhand des Gedichts in dem Roman, den sie vor drei Jahren übersetzt hatte. Und abgesehen von einigen Übungen, die an der Uni zum Lehrplan gehörten, hatte auch Florian sie manchmal gebeten, ein Gedicht für ihn zu übersetzen. Aber das hatte er Carsten scheinbar nicht erzählt.

Claudine legte das Blatt vor sich auf den Schreibtisch. Sieben Haikus auf Französisch. Daraus, dass kein Verfasser angegeben war, schloss Claudine, dass Künzels Autor sie selbst geschrieben hatte. Und da Haikus immer die Natur zum Gegenstand haben und außerordentlich konkret sind, fragte Claudine sich weniger, wie sie zu übersetzen wären, als warum ihr Erzrivale sich außerstande sah, es selbst zu tun. Oder weigerte er sich aus Prinzip? Jeder Schüler in der Sekundarstufe, im Besitz eines Taschenwörterbuchs, hätte diese simplen, geradezu naiv anmutenden Verse übersetzen können. Warum nicht Künzel?
Vielleicht mochte er einfach Haikus nicht besonders. Das wäre mal eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und ihr. Der Gedanke, etwas, über den Beruf hinaus, mit Künzel gemeinsam zu haben, missfiel Claudine. Wenigstens sollte Künzel dann Haikus aus einem anderen Grund nicht mögen.
Was ihr nicht gefiel, war, dass sie keine Herausforderung darstellten. Die sieben Verse hätte sie in einer halben Stunde übersetzen können, ohne ein einziges Wort nachschlagen zu müssen. – Oder täuschte sie sich darin? War es vielleicht viel schwieriger, und sie übersah nur die wirkliche Schwierigkeit?
Aus Claudines Erinnerung tauchte eine ermüdende Diskussion in ihrer Studentenzeit auf. Französische Haikus bestanden, genau wie deutsche, aus drei Zeilen, von denen die erste fünf, die zweite sieben und die dritte wieder fünf Silben hatte.
„Jeder Idiot kann Haikus schreiben“, hatte einer aus der Gruppe gesagt, und Claudine war geneigt gewesen, ihm recht zu geben, hatte aber geschwiegen.
Die japanische Dichtung zählt nicht Silben, sondern Moren, Lautwerte. Eine Silbe kann eine Mora aber auch mehr tragen. Claudine hatte ihre Zweifel daran, dass man Haikus überhaupt in einer anderen Sprache als Japanisch schreiben sollte.
O Gott, hoffentlich war Künzel nicht derselben Ansicht, sondern einfach nur stur – eben erklärtermaßen kein Lyrikübersetzer.

Als Barbara von einem Ordner, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag, aufblickte und Claudine hereinkommen sah, trat ein seltsames Glitzern in ihre Augen, das jedoch fast sofort von einem betont resignierten Gesichtsausdruck ausgelöscht wurde.
„Kommst du, weil du hoffst, ich hätte inzwischen des Rätsels Lösung?“ fragte sie so, als sollte schon die Frage die Enttäuschung vorwegnehmen.
„Du siehst nicht aus, als wäre diese Hoffnung berechtigt“, antwortete Claudine. „Aber dürfte ich dir erst einmal erzählen, was gerade passiert ist?“
Obwohl Barbara geradezu darauf zu brennen schien, eine schlechte Nachricht loszuwerden, berichtete Claudine ihr von ihrem Gespräch mit Carsten, und dass sie jetzt etwas vollbringen sollte, wozu dieser blöde Künzel nicht imstande war.
„Schön“, sagte Barbara. „Der Himmel erhalte uns die kleinen Freuden des Tages, damit wir die Unerfreulichkeiten des Lebens besser verkraften.“
Claudine hatte es sich im Besuchersessel bequem gemacht, und an ihrer entspannten Haltung änderte sich nichts. „Schieß los!“ sagte sie.
„Ich habe doch so großartig verkündet, dass ich in dem Verlag jemanden kenne, von dem ich jede gewünschte Auskunft bekomme.“ Barbara machte eine Pause, um die dramatische Wirkung zu erhöhen.
Claudine wartete ab. Sie hatte das sichere Gefühl, dass Barbara ihr etwas vorspielte.
„Nun“, fuhr Barbara fort, „damit habe ich auch nicht zu viel versprochen. Leider ist es so, dass man sich auch dort über Martin Roths spurloses Verschwinden wundert. Es gibt eine funktionierende Bankverbindung, denn Überweisungen sind bis heute nicht zurückgekommen. An der Stelle habe ich natürlich nicht weiter gefragt, denn wie hätte ich mein Interesse für sein Konto begründen sollen? Ich habe behauptet, wir würden uns für eines seiner Fotos interessieren, um es als Cover zu benutzen. Da können sie nicht ohne Weiteres ihre Zustimmung geben. Das muss mit dem Fotografen selbst ausgehandelt werden, der in solchen Fällen immer den Entwurf absegnen möchte. Gib zu, dass meine Idee genial war. Entweder sie liefern mir den leibhaftigen Martin als Verhandlungspartner, oder meine Anfrage wird gegenstandslos, und ich muss Carsten nicht erklären, warum er für ein Foto bezahlen soll, das wir nicht brauchen.“
„Ich gebe es zu“, sagte Claudine lächelnd.
„Das scheint dich nicht besonders traurig zu stimmen“, monierte Barbara, und diesmal war ihre Enttäuschung nicht gespielt.

martin_go