Leben mit Martin (63)

Als Claudine sich von Rubens verabschiedet hatte, war die frühe Winternacht hereingebrochen. Sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht, und Claudine war sicher, dass Rubens sich melden würde, sobald er etwas von Martin hörte. Der letzte und wohl auch stärkste Faden war nun ausgelegt. Jetzt konnte sie wirklich nichts anderes mehr tun, als warten. Und das waren auch die Worte, die sie später am Abend Barbara gegenüber gebrauchte, nachdem sie ihr am Telefon von der Begegnung mit Rubens erzählt hatte.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, stürzte Claudine sich in den Einkaufstrubel, denn das duldete nun keinen Aufschub mehr. Es war der vorletzte Samstag vor dem Fest, und entsprechend war das Gedränge vor und in den Geschäften. Leider hatten die Schaufensterdekorationen und weihnachtlich geschmückten Verkaufstische keine inspirierende Wirkung. Claudine schwamm im Strom der Käufer ohne die geringste Idee, was sie ihren Eltern schenken könnte. Sie sah jede Menge Geschenke für Menschen, die nicht nur schon alles hatten, was sie brauchten, sondern auch gelernt hatten, Überflüssiges zu schätzen. Aber dazu zählten die Lassalles nun einmal nicht. Ob sie glücklich waren oder unglücklich, in jedem Fall waren sie wunschlos, sah man einmal davon ab, dass sie – wie wohl jeder – hofften, gesund zu bleiben.
Schließlich stand Claudine tatsächlich vor dem Schaufenster eines Sanitätshauses. Schenken Sie Wohlbefinden zum Fest! forderte die rote Schnörkelschrift auf einem goldgerahmten Schild, und zwischen der Unterwäsche aus Angorawolle waren glitzernde Sternchen verstreut. Claudine hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihre Eltern sich darüber sogar freuen würden. Aber sie weigerte sich, ihnen Rheuma-Unterwäsche zu kaufen.
So endete auch diese Expedition, die man wegen der überall herrschenden Hektik beim besten Willen nicht als Einkaufsbummel bezeichnen konnte, nach Stunden ohne Ergebnis. Als Claudine die Füße so wehtaten, dass sie ohnehin an nichts anderes mehr denken konnte als daran, aus ihren Stiefeln herauszukommen, fiel ihr gerade noch ein, dass sie die Wohnung nicht einmal andeutungsweise weihnachtlich geschmückt hatte. Und obwohl sie kein Bedürfnis danach fühlte, kam ihr dieser Verzicht doch wie ein Verstoß gegen die guten Sitten vor. Sie betrat ein Floristik-Geschäft und erstand ein weihnachtliches Ikebana-Gesteck. Es löste ähnliche Gedanken bei ihr aus wie nicht-japanische Haikus, aber es war einfach schön, und die Keramikschale war so schwer, dass sie Claudine den perfekten Vorwand lieferte, für den Heimweg ein Taxi zu nehmen.

Zu Hause stellte sie die Schale auf den Wohnzimmertisch, machte sich einen Tee, nahm aus ihrer schmalen Aktentasche die übersetzten Haikus, die sie sich ausgedruckt hatte, um sie sich am Wochenende noch einmal in Ruhe durchzulesen und mit den französischen Texten zu vergleichen, und zündete die einzige Kerze in der Schale an, eine dicke eckige Kerze, deren Höhe perfekt mit den darum gesteckten Zweigen harmonierte, so dass man sich fragen konnte, ob es überhaupt richtig war sie anzuzünden und diese Harmonie zu stören.
Mit einem Seufzer der Erleichterung legte sie die Füße auf die Couch, las die Verse, und plötzlich erschlossen auch sie sich in ihrer ganzen Harmonie, jeder in sich und alle miteinander. Claudine fand nichts mehr daran zu verbessern und versank bald wieder in die Betrachtung der sich in einem Lufthauch wiegenden Flamme, die den sich ebenfalls wiegenden Schatten eines Kiefernzweiges auf den Tisch warf. Dabei fiel ihr ein, dass Florian das Buch, das er ihr hatte heraussuchen sollen, nicht geschickt hatte. Und sie selbst hatte bis jetzt nicht mehr daran gedacht. Sie hatte es ja auch nicht gebraucht, wie sie inzwischen wusste.
Dann schweiften ihre Gedanken zu dem Gespräch ab, das sie vor einer Woche mit Vicky geführt hatte. Eher war es ein Monolog gewesen, in dem Vicky sich über all die Ideen erging, die in jüngster Zeit wie Kraut geschossen sein mussten, Unkraut im vom Grübeln zerfurchten Kopf einer eifersüchtigen Frau. – Oder doch kein Unkraut? Jedenfalls nicht alles? – Etwas hatte sich ausgesät, feine Wurzeln in ihren eigenen Kopf getrieben, wie Claudine feststellen musste. Hier und da ein Gedankenwinzling. Wie ein Gärtner fragte sie sich: ausreißen oder wachsen lassen und sehen, was daraus wird? Wenn sie morgen zu Rolfs Geburtstag ginge, und ihre Freundin wäre wieder die alte fröhliche Vicky, würden diese Gedanken von selbst verkümmern.

Aber so war es nicht.
Claudine hatte vermutet, dass Vicky für Rolf eine richtige Party geben wollte, also das, was Vicky unter einer Party verstand: viele Leute, Musik, jeder musste immer ein gefülltes Glas in der Hand haben. Natürlich auch ein Büffet – gut aber eher nebensächlich.
Im Jahr zuvor hatte Rolf in seine Wohnung eingeladen, und wenngleich die Geburtstagsfeier diesmal bei Vicky stattfand, kam sie Claudine wie eine Wiederholung vor, fast wie „Der 90. Geburtstag“, den alle sich immer am Silvesterabend anschauen, nur dass es kein Dinner für eine Person war. Die anderen Gäste lebten und waren anwesend, dieselben wie im letzten Jahr. Rolf und Vicky, Rolfs Eltern, Vickys Eltern und eine schöne Frau, bei deren Anblick Claudine unwillkürlich Mulattin dachte. Wäre sie ihr nicht im Jahr zuvor als Rolfs Schwester vorgestellt worden, wäre ihr diesmal das Herz stehengeblieben, zumal sie neben Rolf saß, genau wie im letzten Jahr. Auch da hatte sie Mulattin gedacht, obwohl der Begriff rassistisch konnotiert war. Dabei klang das doch wie Milchkaffee, und eben diese Farbe hatte die makellose Haut dieser Schönheit. – Sie nehmen uns unsere schönsten Worte. Nicht die Worte mussten verschwinden, sondern die Nazis und sonstigen Rassisten.
„Adoptivschwester?“ hatte sie Vicky in einem unbelauschten Moment damals gefragt.
„Nein, seine fünf Jahre ältere Halbschwester“, hatte Vicky lächelnd geantwortet.
Sie mochte Rolfs Eltern sehr.
Dieselbe Tischordnung also. Sie sprachen sogar über dasselbe, nämlich über das Essen. Und das war nun wirklich der Gipfel. Auf dem Tisch standen dieselben Speisen, genauso dekoriert, nur eben auf Vickys Porzellan.
„Hast du gekocht, Rolf?“ fragte Claudine.
„Nein, Vicky.“ Er machte die Geste, mit der man darauf hinweist, dass einem anderen die Ehre gebührt. „Sie hat einen Kochkurs bei mir absolviert. Das hier ist sozusagen ihre Diplomarbeit.“
Er lachte. Es gefiel ihm. Er schien stolz zu sein, auf sich selbst und auf Vicky, die den Dialog nicht gehört hatte oder ignorierte. Sie reichte gerade Rolfs Mutter die Sauciere, setzte sich wieder zurecht, wünschte allen einen guten Appetit. Ihre Augen begegneten denen von Claudine. Verzweiflung stand darin.
Oh, mein Gott, dachte Claudine, sie ringt ihm Zeit ab, indem sie ihn bittet, ihr das Kochen beizubringen. Vicky hatte noch nie gern gekocht, aber das Essen war ausgezeichnet. Und als sie genug über das Essen gesprochen hatten, waren die zu milden Winter an der Reihe, auch wie im letzten Jahr. Beim Dessert stießen sie mit Champagner auf Rolf an. Nicht sehr spät fand der Abend sein Ende. „Ich fahre dich nach Hause“, sagte Rolf, als er Claudine in den Mantel half.
„Das können wir doch machen, dann musst du nicht raus. Wir haben diese junge Dame schon nach Hause gebracht, als ihr noch regelmäßig nach jedem Negerkusswettessen schlecht wurde und wir deshalb einen kleinen Eimer an Bord hatten“, sagte Vickys Vater launig.
„Ich muss sowieso noch mal ans Auto. Hab′ was vergessen“, entgegnete Rolf und griff bereits nach seiner eigenen Jacke.
Vicky stand daneben. Claudine konnte sehen, dass es sie Kraft kostete, ihn zu fragen.
„Kommst du danach zurück?“
Rolf schaute sie irritiert an, lächelte dann aber und küsste sie schnell. „Natürlich komme ich zurück.“

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