Leben mit Martin (64)

Claudine dachte, dass Rolf einen Vorwand gesucht hatte, unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Als sie jedoch neben ihm im Auto saß, sagte er lange nichts. Nur während sie an einer roten Ampel warteten, und von beiden Seiten Passanten die Straße überquerten, machte er eine Bemerkung darüber, dass erstaunlich viele Leute jetzt am Abend noch unterwegs seien.
Das Navi, in das er Claudines neue Adresse eingegeben hatte, war gesprächiger.
Nach fünfhundert Metern rechts abbiegen.
Jetzt rechts abbiegen.
Sollte Rolf tatsächlich nur einen Vorwand gebraucht haben, um Vickys Wohnung zu verlassen – vielleicht um später unbelauscht zu telefonieren? Oder würde er gar sein Versprechen nicht halten und nicht zu ihr zurückkehren?

Claudine gab sich einen Ruck und ergriff die Initiative.
„Hör mal, ich dachte, dass Vicky inzwischen mit dir gesprochen hätte, und dass du mich hauptsächlich deswegen nach Hause fährst, weil du mit mir über Vicky sprechen willst.“
Rolf warf ihr einen raschen Seitenblick zu. „Gesprochen? Worüber?“
Claudine biss sich auf die Lippe. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, auch darin, dass Rolf nur darauf wartete, sie würde das Gespräch eröffnen. Jetzt sah es nach einer unerwünschten Einmischung aus, und sie hätte am liebsten einen Rückzieher gemacht, wusste aber nicht wie.
„Dir wird doch wohl nicht entgangen sein, dass Vicky in letzter Zeit nicht gerade glücklich ist“, sagte sie, sich noch alle Möglichkeiten offenlassend.
„Das scheint ja oft so zu sein, dass der Partner es als Letzter merkt, aber ganz so blind bin ich nicht. Ich habe schon bemerkt, dass sie nicht gerade vor Fröhlichkeit sprüht. Sie hat im Geschäft viel am Hals. Leider habe ich gerade auch viel um die Ohren, und es stimmt sicher, dass ich mich zu wenig um sie gekümmert habe. Hat sie sich bei dir beklagt?“
Claudine fühlte die Wut aufsteigen. „Beklagt? Du sagst das, als wäre es nicht ernst zu nehmen. Ein hin und wieder fälliges Beklagen bei der besten Freundin, schon aus Gründen der seelischen Hygiene. Nein, sie hat sich nicht beklagt, Sie hat mir rund heraus gesagt, was sie glaubt.“
Im Profil sah sie, dass Rolf die Stirn runzelte.
„Was sie glaubt? Reden wir über Glaubensfragen? Was glaubt sie denn?“ Rolf gab sich Mühe, die Frage freundlich und leicht amüsiert klingen zu lassen.
„Dass du eine andere Frau hast“, antwortete Claudine ohne Umschweife.
Rolf trat so heftig auf die Bremse, dass der Sicherheitsgurt sich spannte und Claudine schmerzhaft gegen die Brust drückte, als ihr Oberkörper, der Trägheit aller Körper gehorchend, im selben Tempo weiter bewegt werden wollte.
„Dass ich eine andere Frau habe?“ Er schien tatsächlich fassungslos zu sein. Hinter ihnen wurde gehupt, und er wechselte von der Bremse wieder aufs Gaspedal. Seltsamerweise hatte Claudine den Eindruck, dass Rolf irgendwie erleichtert war. Weil die Wahrheit endlich herauskam? Er lachte sogar kurz auf.
„Was für ein Unsinn! Wir kommt sie nur auf so etwas?“ Rolf schüttelte den Kopf.
Claudine hätte ihm gerne geglaubt, aber nachdem sie sich so weit vorgewagt hatte, konnte sie sich nicht damit zufrieden geben, dass er es mit zwei Sätzen leugnete. „Also ist es keine andere Frau? Was ist es dann?“ fragte sie.
„Nichts. Vicky bildet sich das ein. Und du bestärkst sie womöglich noch darin – nur weil ich abends oft unterwegs bin, um meine Brötchen zu verdienen. Wahrhaftig nicht zu meinem Vergnügen! Und da denkt ihr euch gleich die hirnrissigsten Geschichten aus?“
Claudine bekam Herzklopfen vor Wut. Diese Männerstrategie, Angriff als beste Form der Verteidigung, brachte sie auf die Palme.
„Wir denken uns überhaupt nichts aus. Und auch Vicky bildet sich nichts ein, wenn sie feststellt, dass du abends mehr Kunden betreuen musst, als das beim besten Willen glaubhaft ist.“
Sie hatten Claudines Straße erreicht. Wenn Rolf jetzt in zweiter Spur hielt, wenn er den Motor laufen ließ und nur darauf wartete, dass sie ausstieg, war das Gespräch beendet.
Sie haben Ihr Ziel erreicht, sagte das Navi.
Rolf fuhr weiter, setzte in eine Parklücke und drehte den Zündschlüssel.
„Verdammt noch mal!“ Er zündete sich eine Zigarette an und ließ das Seitenfenster einen Handbreit herunter. „Auf die Idee, dass eine Frau dahinter steckt, kommt sie doch nur wegen dir und Florian. Ich weiß, es ist taktlos von mir, das zu sagen, aber ich kann es mir nicht anders erklären.“
„Ich glaube nicht, dass es für Vicky so naheliegend ist, dich mit Florian zu vergleichen, denn sie hat Florian nie besonders leiden können“, sagte Claudine so ruhig wie möglich.
„Wenn eine Frau auf ihren Mann sauer ist, sind doch alle Männer plötzlich gleich“, entgegnete er rechthaberisch.
Es wurde schnell kalt im Auto. Claudine fror, und sie hatte keine Lust, sich Sprüche anzuhören. Beinahe sehnsüchtig warf sie einen Blick nach hinten, wo die Haustürbeleuchtung auf die Granitstufen und den eisernen Stiefelkratzer schien. Sie war müde. Sie wollte in ihr Bett. – Sie riss sich zusammen und widersprach.
„Ich könnte jetzt sagen: Umgekehrt. Du machst gerade alle Frauen gleich.“
Rolf holte Luft, aber Claudine ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Jetzt hör mir mal eine Minute zu. Vicky ist todunglücklich. Sie leidet wirklich. Und wenn es wahr ist, dass da keine andere Frau ist – wenn es einen anderen Grund dafür gibt, warum du dauernd unterwegs und mit den Gedanken sonst wo bist, dann solltest du ihr das erklären, und zwar glaubhaft. Am besten sagst du ihr die Wahrheit. Denn wenn du sie einfach leiden lässt, nur um ihr irgend etwas nicht zu erzählen, egal aus welchem Grund, dann bist du nicht weniger ein Scheißkerl, als wenn du sie betrügst. Betrug findet nicht nur im Bett statt.“
Rolf, der ihr stets wie ein zahmer Tanzbär vorgekommen war, ein Typ, den viele Frauen als knuddelig bezeichnen würden, oft unterhaltsam, manchmal sogar witzig, immer aber unerschütterlich; Rolf, an dem sie, wenn überhaupt etwas, nur störte, wenn er hin und wieder zu verbindlich war, als wolle er einem etwas verkaufen – sie wusste nie, ob das eine Berufskrankheit war oder zu seinem Charakter gehörte und ihn zum Beruf befähigte – Rolf sackte vor ihren Augen in sich zusammen.
„Erklären? Die Wahrheit? Das kann ich nicht. Und würde ich es versuchen, würde Vicky es nicht verstehen.“ Er strich sich mit einer müden Bewegung über die Augen.
„Wenn du es ihr nicht erklären kannst, kannst du es vermutlich mir auch nicht erklären. Und damit hätte dieses Gespräch sich erledigt“, sagte Claudine kühl und machte Anstalten auszusteigen.
„Warte!“ sagte Rolf schnell. „Ich werde versuchen, es Dir zu erklären. Mal sehen, ob Du mir dann nicht beipflichtest, dass ich Vicky unmöglich die Wahrheit sagen kann.“
Claudine zog die Hand vom Türgriff zurück und wartete.
Er vermied ihren Blick, während er mit sich rang. Endlich sagte er: „Ich bin finanziell am Ende. Ich habe Mist gebaut, und um es wieder hinzubiegen, habe ich noch mehr Mist gebaut. Mir steht das Wasser bis zum Hals. Ich habe Schulden und weiß kaum noch, wie ich die Löcher stopfen soll. Wenn ich eine Eidesstattliche Erklärung abgeben muss, bin ich meine Stellung los. Und du kennst Vicky. Für so etwas hat sie kein Verständnis. Und das nehme ich ihr nicht mal übel. Ich begreife ja selbst nicht, wie es so weit kommen konnte.“
Claudine war zu überrascht, um sofort zu antworten. Sie versuchte, einen Zusammenhang zwischen nächtlichem Unterwegssein und finanziellen Schwierigkeiten herzustellen. Rolf würde ja wohl nicht nachts Tankstellen ausrauben, um zu Geld zu kommen.
„Vielleicht unterschätzt du Vicky“, sagte sie ziemlich lahm, denn soviel war klar: Vicky, die Tüchtige, hatte nur begrenztes Verständnis, wenn es darum ging, dass andere ihr Leben nicht im Griff hatten.
„Es sollte mich wundern, wenn ich sie in diesem Punkt falsch einschätze“, sagte Rolf, und nach einer Pause, in der er offenbar allen Mut zusammennahm, erzählte er den Rest. „Es fing ganz harmlos an. Ich musste einen Kunden zum Essen einladen. Du weißt ja, dass ich bei solchen Gelegenheiten Vicky mitgenommen habe, wenn es so aussah, als würde es kein hoffnungslos langweiliger Abend für sie werden, und vor allem dann, wenn auch der Kunde in Begleitung war. Du kennst das. Du und Florian habt es genauso gemacht. Aber dieser Typ war ohne Begleitung, und er hätte Vicky nicht gefallen. Ich fand ihn auch nicht sonderlich sympathisch, aber Geschäft ist Geschäft. Jedenfalls nach dem Essen wollte er partout in die Spielbank. Es sah so aus, als hinge davon ab, ob er am nächsten Tag abschließt oder nicht. Für mich hing eine fette Provision dran. Jedenfalls ließ ich mich durch seine großkotzige Art dazu verleiten, auch Einsätze zu machen, höher als ich das unter anderen Umständen getan hätte. Überhaupt sind Spielcasinos nicht meine Welt. Oder jedenfalls waren sie es nicht.“
„Du hast also hoch gesetzt und hast verloren“, folgerte Claudine, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.
Rolf lachte unfroh. „Im Gegenteil. Ich habe gewonnen. Mein Kunde leider nicht. Und das hat ihm dermaßen die Laune verdorben, dass er mich am nächsten Tag anrief, um mir zu sagen, er müsse sich alles noch mal durch den Kopf gehen lassen. Ich hörte nie wieder von ihm. Keine Ahnung ob und bei wem er seine Yacht versichert hat. Es war ärgerlich aber nicht schlimm, um so weniger, als mein Spielgewinn höher war, als was ich an ihm verdient hätte. Glück, wenn man so will. Misstrauisch hätte ich werden sollen, als ich mich fragte, warum ich Vicky nichts davon erzählte. Aber die Antwort gab ich mir auch gleich selbst. Sie hätte sich darüber aufgeregt, wie ich so hoch hatte spielen können. Es hätte ja auch umgekehrt kommen können, und ich wäre den Kunden und das Geld noch dazu los gewesen. Statt dessen fing ich an, mich mit Roulette zu beschäftigen. Zunächst theoretisch. Es interessierte mich als Zahlenspiel, als System. Ich hatte Glück gehabt, aber ich hätte noch mehr gewinnen können, wenn ich nach einem besseren System gespielt hätte, statt nur den Einsatz immer wieder zu verdoppeln.“

martin_go