Leben mit Martin (65)

„Wer immer gewinnt, ist die Bank“, sagte Claudine.
Das Wenige, was sie über Roulette wusste, wusste sie aus Romanen. Auch Françoise Sagan hatte darüber geschrieben, in ihren Memoiren. Es lag an der Null. Zero sorgte dafür, dass die Bank immer gewann.
„Ja“, sagte Rolf, „die Bank gewinnt immer. Aber auch ein paar Spieler gewinnen. Und das macht den anderen Spielern Hoffnung, auch sie selbst könnten zu den Gewinnern gehören. Trotzdem bildete ich mir ein, die Sache realistisch zu sehen. Ich wollte ja auch nicht wirklich spielen. Ich wollte nur ein System überprüfen – eines, das zumindest in der Theorie zu funktionieren schien. Darum ging es mir. Und darum ging ich wieder hin.“
„Und dann hast du verloren“, riet Claudine abermals und diesmal richtig.
„Ja. Und zwar mehr als ich beim ersten Mal gewonnen hatte. Das System war sicher, man musste nur mit genug Kapital spielen. Zwar durfte man nicht vergessen, dass es an den Spieltischen ein Limit gibt. Trotzdem konnte es nur ein verfluchtes Pech sein, wenn man so hoch setzen musste. Man glaubt ja nicht, dass man immer Glück hat. Aber man glaubt noch weniger, dass man immer Pech haben kann. Das glauben doch nur ganz hartgesottene Pessimisten. Dazu gehöre ich nicht. Ich versuchte es wieder. Und wieder. Es dauerte nicht lange, und hohe Spielgewinne wären das Einzige gewesen, was mich hätte retten können. Natürlich gewann ich auch manchmal. Aber nicht oft genug und zu wenig.“ Ungeschickt fummelte er eine weitere Zigarette aus der Packung. „Jetzt ist jedenfalls Schluss. Ich habe nichts mehr, was ich verspielen könnte. Auch keinen Kredit mehr. Ich werde es Vicky also sowieso erzählen müssen. Aber ich will bis nach Weihnachten warten, ihr wenigstens nicht das Fest verderben.“
„Solange sie glaubt, was sie jetzt glaubt, ist für sie das Fest schon verdorben“, sagte Claudine. „Und bilde dir auch nicht ein, dass es jetzt vorbei ist, und dass du nur die Finanzen wieder geregelt kriegen musst. Rolf, du bist spielsüchtig. Sobald du ein bisschen Geld hast, spielst du weiter. Irgendwann an Automaten. Du musst dich in Behandlung begeben. Aber das Allerwichtigste: Du musst es Vicky sagen. Am besten noch heute. Nutze deinen Geburtstagsbonus. Klar wird sie sauer sein, aber auch froh, dass keine andere Frau der Grund für dein Verhalten in der letzten Zeit war.“
„Sie wird jegliche Achtung vor mir verlieren. Danach wird es ihr egal sein, ob ich eine andere habe oder nicht.“ Rolf klang hoffnungslos.
Inzwischen tat er Claudine leid. Vicky war ein guter Kumpel, und wenn Frauen ihr von ihren Problemen erzählten, dann wegen ihrer pragmatischen und deshalb aufmunternden Ratschläge. Dieselbe pragmatische Einstellung aber bewahrte sie davor, ein Helfersyndrom zu entwickeln. Sie gehörte bestimmt nicht zu den Frauen, die auf Männer versessen sind, die gerettet werden müssen. Nein, es würde nicht leicht werden.
„Ob das so ist, wirst du dann sehen“, sagte Claudine. „Ich kann dir leider keinen besseren Rat geben.“
„Könntest du vielleicht – .“ Rolf brach ab.
„Mit ihr reden?“ Claudine fühlte, wie sie innerlich kalt wurde. Das war wirklich zu erbärmlich.
„Nein, eben nicht mit ihr reden. Das möchte ich selbst tun. Aber nicht vor Weihnachten. Ich nehme mir ja jetzt Zeit für sie. Sie wird keinen Grund haben, zu glauben, dass ich bei einer anderen bin.“
„Weihnachten? Es geht doch wohl eher um dein Weihnachten! Noch ein bisschen heile Welt. Noch ein paar Tage Bedenkzeit. Und wer weiß, vielleicht geschieht ja ein Wunder. Vielleicht findest du im Rinnstein einen Tausender, mit dem du es noch mal probieren könntest. Dein blöder Stolz ist dir wichtiger als eure Beziehung. Scheiße, Rolf! Wirklich Scheiße! Aber trotzdem danke fürs nach Hause Bringen!“
Sie hatte die Tür schon geöffnet, als Rolf sie abermals bat, noch zu warten.
„Könntest du wenigstens ein Wort für mich einlegen, nachdem sie mich in die Wüste geschickt hat – damit sie es sich vielleicht noch mal überlegt?“
Claudine zögerte, zog die Wagentür wieder heran und dachte nach. „Pass auf, du machst es folgendermaßen: Wenn du jetzt wieder bei ihr bist, sagst du, ich hätte dir verraten, dass sie neulich drauf und dran war, über tausend Euro für ein Cocktailkleid auszugeben.“
„Ist nicht wahr!“ sagte Rolf und musste beinahe lachen.
„Doch ist es wahr. Und dann – .“
Rolf unterbrach sie. „Sie wird es abstreiten und sagen, dass du mir so etwas niemals verraten hättest.“
„Da es stimmt, muss sie es wohl oder übel glauben. Sie wird stinksauer auf mich sein, aber erst mal wird sie auf dich losgehen. Dazu musst du es natürlich ordentlich vorwurfsvoll klingen lassen, obwohl so eine Kleidersünde ein Klacks gewesen wäre, verglichenen mit – . Na, du weißt schon.“
Rolf nickte, und Claudine fuhr fort.
„Sie wird also explodieren, und ich hoffe, richtig. Und wenn sie nicht sofort explodiert, musst du nachlegen, bis sie es tut. Bis sie dir selbst an den Kopf wirft, dass sie glaubt, du hättest eine andere Frau.“
„Und dann?“ Rolf schaute sie an, als wäre sie ein Orakel.
„Und dann erzählst du ihr die Wahrheit. Am besten genauso, wie du sie mir eben erzählt hast. Aber eben erst nachdem sie sich quasi ins Unrecht gesetzt hat mit diesem ungeheuerlichen und ungerechtfertigten Verdacht.“

Der Anruf kam lange nach Mitternacht. Vicky sprach so leise, dass Claudine, die zu aufgewühlt gewesen war, um gleich einzuschlafen, und deshalb noch gelesen hatte, sich den Telefonhörer ans Ohr pressen musste.
„Danke“, sagte sie und ließ sich von Claudines gespielter Unwissenheit nicht täuschen. „Ich weiß genau, dass du mich nur verpetzt hast, damit ich ausraste. Und das ist natürlich passiert. Jetzt ist er gerade im Bad. Wir müssen uns noch sortieren. Aber ich kann endlich wieder durchatmen, jedenfalls bis ich anfange zu hyperventilieren wegen Rolfs Schulden. Ich drücke dich ganz doll.“
Sie legten auf.

Am Montagvormittag war Carsten nicht im Büro, und Claudine bat Selma, die übersetzten Haikus. auf seinen Schreibtisch zu legen. Mittags holte Perschke sie an der gewohnten Stelle zur Fahrstunde ab.

Bevor Claudine sich hinter das Steuer setzte, warf sie eine Papprolle auf den Rücksitz.
„Können wir die Strecke fahren, die wir letztens genommen haben? Da war so ein Bilderrahmengeschäft. Ich würde gerne etwas abgeben.“
„Ich komme mir bald vor wie ein Kurierdienst“, sagte Perschke. Claudine war heute nicht seine erste Schülerin, die etwas Vorweihnachtliches ganz dringend nebenbei erledigen wollte, aber er war einverstanden.

In dem Laden musste Claudine warten, bis der Inhaber mit der Beratung eines anderen Kunden fertig war, und er beriet sehr sorgfältig, was ja grundsätzlich zu begrüßen war. Danach nahm er sich auch für Claudine Zeit. Sie holte das Diagramm aus der Papprolle, die sie sich aus Webers Fundus an Verpackungsmaterial herausgesucht hatte.
„Interessant“ sagte der Mann nach einem Blick auf die umkringelten Wörter und sich dazwischen kreuzenden Linien in Schwarz und Rot. „Da kommt ja wohl am ehesten ein schwarzer oder roter Rahmen in Frage.“
Er zeigte ihr eine rote Rahmenleiste, riet dann zu einem nicht zu breiten Passepartout, weil schon die Ränder des Blattes weiß geblieben waren. Eine Pappe in demselben Papierweiß, aber relativ dick, damit ein kleiner Schatten auf das Blatt fiel. Als sie sich einig waren, und Claudine ihn auch noch überredet hatte, dass sie das fertig gerahmte Bild schon am Donnerstag abholen könnte, war fast eine halbe Stunde vergangen.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, murmelte sie, als sie wieder in den Wagen stieg.
Perschke machte ein gottergebenes Gesicht. „Ich sehe schon, dass es blühender Frühling sein wird, bis Sie Ihren Führerschein machen.“

Im Lauf der Woche dachte Claudine ein paarmal daran, ihren Hauswirt anzurufen und darüber aufzuklären, dass es sich bei Martins Säumigkeit mit der Miete in Wirklichkeit um das Versäumnis eines Freundes gehandelt hatte. Aber das hätte nur Sinn gehabt, wenn sie gleich dazu gesagt hätte, dass sie, sollte Martin Roth zurückkommen, bereit wäre, aus der Wohnung wieder auszuziehen. Und was würde ein Mensch wie Klausen von dieser Großzügigkeit halten? Er würde sie – im Stillen zumindest – für verrückt erklären. Das konnte ihr zwar egal sein, aber Claudine hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Jedenfalls hatte es Zeit, bis Martin tatsächlich wieder auftauchte – sollte das wirklich geschehen. Seltsamerweise erschien es ihr jetzt, wo sie alles getan hatte, um ihn ausfindig zu machen, jeden kontaktiert hatte, mit dem er möglicherweise Verbindung aufnehmen würde, wie etwas völlig Utopisches. Es war, als hätte sie wochenlang einen Roman gelesen, sich dabei oft so sehr in die Handlung versetzt, dass sie alles um sich vergessen hatte, und jetzt war die Geschichte zu Ende und sie selbst in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman …

Carsten kam persönlich in ihr Büro, um ihr zu sagen, dass er mit den Haikus sehr zufrieden war. Er wäre vermutlich mit jeder Übersetzung zufrieden gewesen, bei der sie die vorgeschriebene Silbenzahl eingehalten hätte.
„Ich verstehe absolut nicht, warum Künzel sie nicht selbst übersetzt hat“, sagte er, nachdem er vergeblich darauf gewartet hatte, dass Claudine eine Bemerkung machte.
„Vielleicht ist es besser, wenn jemand, der nicht im Text steckt, Lyrik übersetzt, die nicht damit verwurzelt sein soll, sondern darauf liegen wie ein vom Baum gefallenes Blatt“, sagte Claudine.
„Aha“, machte Carsten leicht verdutzt und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Das hast du aber eben sehr poetisch gesagt.“
Claudine war durchaus klar, dass sie gerade die vielleicht einmalige Chance vergeben hatte, Künzel eins auszuwischen, ohne sich wegen seiner ständigen Anfeindungen zu beschweren, was immer schlecht ankam, auch wenn man im Recht war. Aber ihr stand der Sinn nicht nach Feindseligkeiten. Sie hoffte nur, dass Carsten ihr dies nicht als vorweihnachtlich bedingte Nächstenliebe auslegte.
Er wollte die Tür öffnen und schien sich erst jetzt an die Bücher zu erinnern, die er unter dem Arm trug. „Das hätte ich fast vergessen. Dabei bin ich doch hauptsächlich deshalb gekommen.“
Er legte drei kürzlich in Frankreich erschienene Novellen auf Claudines Schreibtisch.
„Schau sie dir über die Feiertage mal an, und sag mir dann, was du davon hältst.“
Claudine hielt es für möglich, dass Carsten nur den Vergesslichen spielte, während er sich tatsächlich erst in diesem Augenblick entschlossen hatte, ihr eine Aufgabe zu übertragen, die er üblicherweise sich selbst vorbehielt. Es war eine Auszeichnung, und sie überwog die Enttäuschung. Ein Blick hatte ihr genügt, um festzustellen, dass nichts von Modiano dabei war.

martin_go