Leben mit Martin (72)

„Wie weit bist du mit Packen?“ fragte Florian ohne Begrüßung.
Claudine musste lächeln. Es war nicht sein erster Anruf heute, und es war der achte, seit sie sich in Nikolassee voneinander verabschiedet hatten.
„Ich bin fertig“, sagte sie. „Ich säße schon im Taxi auf dem Weg nach Hause, wenn nicht Herr Roth gekommen wäre, als ich gerade losgehen wollte. Stell dir vor, was für ein Glück! Ein paar Minuten später, und er hätte hier vor verschlossener Tür gestanden, ohne zu ahnen, was los ist. Er war natürlich einigermaßen schockiert, hier jemanden anzutreffen.“
„Dein Vormieter? Das ist ja wirklich ein bemerkenswerter Zufall. Fast wie Kino. Macht er Schwierigkeiten?“ Florians letzter Satz hatte alarmiert geklungen.
„Nein. Nein, überhaupt nicht“, beruhigte ihn Claudine.
Sie fühlte sich jetzt etwas freier, denn Martin war hinausgegangen, und sie sah ihn durch die offene Tür im Schlafzimmer verschwinden. „Ich zeige ihm gerade noch, was ich hier umgeräumt habe. Ich meine, es wäre ja Unsinn, wenn er sich jetzt ein Hotelzimmer nimmt, und hier steht die Wohnung leer. Noch ein paar Minuten, und dann komme ich.“
„Ja, ja“, entgegnete Florian so zerstreut, wie er sich immer anhörte, wenn er fieberhaft überlegte. „Hör mal, lass das mit dem Taxi. Ich setze mich gleich ins Auto und hole dich ab.“ Er ließ Claudine keine Gelegenheit, zu widersprechen, sondern hatte aufgelegt, bevor sie etwas sagen konnte.

Sie folgte Martin ins Schlafzimmer. Er hatte seine Wildlederjacke ausgezogen, über die Stuhllehne gehängt und stand nun mitten im Zimmer, den Blick auf die Zeichnung über dem Bett gerichtet. Als er sich bei Claudines Eintreten umdrehte, lag ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, gerade ausreichend die Andeutung von Grübchen in seinen Wangen sichtbar zu machen.
Himmel, was für Augen! Blaue Saphire. – Dass sie hart und kalt werden konnten, hatte Claudine in der ersten Minute ihrer Begegnung gesehen. Jetzt schienen sie Sonnenlicht eingefangen zu haben. Unwillkürlich schaute Claudine zum Fenster. Von Sonne war nichts zu sehen.
Vielleicht war es das, oder Florians Anruf hatte bewirkt, dass sie den Drang losgeworden war, ständig zu reden. Sie musste sich sogar einen Ruck geben, mit ihren Erklärungen fortzufahren.
„Bekommen Sie keinen Schreck, wenn Sie den Kleiderschrank öffnen. Er ist leer. Ihre Sachen habe ich in die Truhen gelegt.“
Martin nickte. „Die Truhen möchten Sie sicher mitnehmen. Sie sind sehr schön. Ich werde sie nachher auspacken.“
„Wenn Sie den Christbaumschmuck suchen, – auf der rechten Schrankseite ist alles, wo es war. Ich werde in etwa einer halben Stunde abgeholt. Ich gebe Ihnen am besten meine Telefonnummer. Sie werden vielleicht noch Fragen haben, und wir müssen dann verabreden, wann ich meine restlichen Sachen hole.“
Claudine holte ihr Filofax aus der Handtasche. Darin befanden sich noch einige von den Visitenkarten, die Florian und sie vor drei Jahren hatten drucken lassen, ohne oft Verwendung dafür zu haben. Üblicherweise benutzte nur Florian Visitenkarten und dann die geschäftlichen. Auf die Rückseite schrieb sie ihre Mobilnummer und gab Martin die Karte.
„Fällt Ihnen noch etwas ein, was Sie mich fragen möchten?“
Gott, wie ungeschickt! Das hörte sich ja an, als würde sie nur auf die Gegenfrage warten. Und wenn er das dächte, hätte er sogar recht.
„Im Augenblick nicht“, sagte er, aber dann schien ihm doch noch etwas einzufallen. „Das Ikebana-Gesteck im Wohnzimmer, nehmen Sie das mit?“
Claudine war überrascht. Darüber hatte sie nicht nachgedacht, vielleicht, weil sie, seit sie in die Wohnung zurückgekehrt war, die Kerze kein einziges Mal angezündet hatte. Sie verneinte.
„Wenn ich es behalten darf, werde ich den Baum gar nicht aufstellen. Ich hatte hier noch nie einen Weihnachtsbaum. Können Sie ihn nicht doch gebrauchen?“
„Ich weiß nicht.“ Sie wusste es wirklich nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, was Florian zu diesem Martinsbaum sagen würde. Vielleicht hatte er ja inzwischen eine Tanne besorgt. Sie hatten nicht darüber gesprochen.
Weihnachten war da und gleichzeitig weit weg.
„Ich werde meinen Freund fragen, wenn er kommt, ob er schon einen Baum besorgt hat“, sagte Claudine. „Eigentlich schade, wenn Sie Ihren nicht aufstellen. Der Weihnachtsschmuck ist sehr schön.“
„Er ist alt. Ich bewahre ihn zur Erinnerung auf.“
„Gerade fällt mir noch der Staubsauger ein. Den muss ich Sie eventuell bitten, wieder herauszurücken. Den hat eine Freundin mir geschenkt. Auch wenn ich ihn jetzt nicht mehr brauche, muss ich sie doch fragen, ob sie es mir nicht übelnimmt, wenn ich ihn hierlasse“, sagte Claudine.
In diesem Moment schrillte die Türglocke. Florian konnte nicht gefahren, er musste tief geflogen sein. Oder er war schon halb auf dem Weg gewesen und hatte aus dem Auto angerufen.

Solange sie lebte, hatten sich nie zwei Männer um Claudine geprügelt. Sie hätte behauptet, dass sie darauf auch nicht erpicht war. Jedenfalls, als Florian und Martin sich gegenüberstanden, lag die Möglichkeit einer Schlägerei so spürbar in der Luft wie die Elektrizität kurz vor einem Gewitter. Und zweifellos wäre es Florian gewesen, der angefangen hätte. Etwas, das Claudine ihm nie zugetraut hätte. Zwar streckte er Martin die Hand entgegen, aber es war eher eine Herausforderung, der Händedruck ein kleines Kräftemessen.
Lag das an diesem Baum? War der irgendwie mit einem Fluch belegt?
Vorhin hatten sie und Martin sich daneben fast in die Haare bekommen, und jetzt standen sich Florian und Martin an derselben Stelle wie Kampfhähne gegenüber.

„Können wir?“ fragte Florian Claudine ziemlich barsch.
„Natürlich können wir. Hätte ich nicht auf dich warten sollen, wäre ich längst unterwegs“, antwortete sie. „Herr Roth hat mich gefragt, ob wir den Weihnachtsbaum mitnehmen möchten. Da ich das Adventsgesteck hierlasse, genügt ihm das als Weihnachtsdekoration. Brauchen wir einen Baum, oder hast du schon einen besorgt?“
Claudine fragte es möglichst beiläufig, und die Ablehnung stand so deutlich in Florians Gesicht, wie sie es vorausgeahnt hatte.
Trotzdem musste er zugeben, dass er noch keinen Baum gekauft hatte. „Nein, ich dachte, das könnten wir jetzt gemeinsam machen.“
Dann begegneten sich die Blicke der beiden Männer, und der von Martin sagte deutlich: Jetzt werden wir ja sehen, ob du ein Arsch bist.
„Wir können aber auch diesen mitnehmen, wenn er hier nur im Weg ist“, sagte Florian.
„Na, dann – “ munterte Claudine ihn auf und griff sich einen der Koffer.
„Ich helfe gerne beim Runtertragen““, bot Martin an.
„Danke, das schaffen wir schon“, sagte Florian, wuchtete sich den Baum unter den linken Arm und griff mit der rechten Hand den zweiten Koffer.
Claudine hielt ihm die Tür auf.

Florian hatte den Phaeton schräg in eine zu kleine Parklücke gesetzt. Am Heiligabend war hoffentlich Schonzeit, und tatsächlich hatte in den paar Minuten kein Ordnungshüter einen Strafzettel hinter den Scheibenwischer geklemmt.
Während er den Baum in den Kofferraum verfrachtete, stand Florian mitten auf der Straße. Der Fahrer eines grün-weißen Minis wartete geduldig. Frieden auf Erden. Florian knallte den Kofferraumdeckel zu, der allerdings kaum ein Geräusch von sich gab, denn Knallen war bei einem Phaeton nicht vorgesehen. Er ließ den Mini vorbei, bevor er zurücksetzte, damit sie die Tür weit genug öffnen konnten, um die Koffer auf die Rückbank zu legen.

Claudine hatte erwartet, dass Florian, kaum dass sie im Auto säßen, eine ganz Liste von Bedenken hervorzaubern würde, warum es verkehrt war, Martin einfach die Schlüssel zu geben und ihn in der Wohnung bleiben zu lassen. Statt dessen sagte er nur: „Warum habe ich bloß das Gefühl, gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein?“
War es so? Claudine ließ ihre Gefühle und Gedanken der letzten Minuten, bevor Florian gekommen war, Revue passieren. Nein, so war es nicht. Auch wenn Florian sie nicht abgeholt hätte, hätte sie sich Minuten später ein Taxi gerufen. Wenn sie allerdings vor zwei Tagen nicht zu Florian gegangen wäre, wenn es die Nacht danach nicht gegeben hätte, wenn also alles noch so gewesen wäre, wie vor drei Tagen, dann allerdings –
„Ich weiß nicht, warum du dieses Gefühl hast“, sagte sie und dachte: Wenn wir in dem grün-weißen Mini säßen, die piekenden Fichtenzweige im Genick, frierend, weil ein Seitenfenster wegen der Länge des Baumes offen bleiben musste, würden wir uns jetzt vielleicht streiten. Große Limousinen der oberen Luxusklasse hatten eben doch eine ungemein beruhigende Wirkung. Das heißt, eigentlich war Claudine gar nicht ganz so ruhig, wie sie tat. Tief in ihr hüpfte etwas wie ein bunter Flummi. Florian hatte nicht nur gesagt, er wäre eifersüchtig. Er war es wirklich. Eine völlig neue Erfahrung, und sie gefiel ihr, auch wenn sie nicht vorhatte, sie in Zukunft auszuprobieren wie ein neues Spielzeug. Wenn man gerade das Gefühl hat, dass alles ist, wie es sein soll, macht man keine Experimente.
Sie stellte sich vor, wie sie den Baum aufstellen und schmücken würden.
Sie stellte sich Silvester in London vor.
In Nikolassee knirschte der Kies der Auffahrt unter den Reifen.
Sie war wieder zu Hause.

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Leben mit Martin (71)

Claudine ging gerade noch einmal durch alle Räume, um zu kontrollieren, ob die Fenster richtig geschlossen und die Heizkörper abgestellt waren, als sie hörte, dass von außen jemand versuchte, die Wohnungstür aufzuschließen. Einbrecher! dachte sie und überlegte fieberhaft, ob sie durch laute Geräusche darauf aufmerksam machen sollte, dass jemand zu Hause war, oder ob es besser war, die 110 zu wählen und leise um schnellstmögliches Erscheinen der Polizei zu bitten. Dann aber wurde ihr klar, was das Gefummel am Schloss mit größter Wahrscheinlichkeit zu bedeuten hatte. Sie stürzte zur Tür und riss sie auf.

Der Mann war mindestens ebenso erschrocken wie Claudine, die allerdings zunächst auf den Weihnachtsbaum starrte, der in seinem Arm lehnte und ihn halb verdeckte, dann erst in sein Gesicht. Sie erkannte ihn sofort, obwohl er etwas anders aussah, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Das Haar war dunkler, und eine Strähne fiel ihm widerspenstig in die Stirn. Die Schultern waren breiter und steckten in einer abgetragen aussehenden Wildlederjacke. Neben seinen Füßen stand eine große Reisetasche, die einen ähnlich verwegenen Eindruck machte.
„Herr Roth?“ fragte sie, und merkte, dass ihr Mund ganz trocken geworden war, so dass sie einen Hustenreiz unterdrücken musste.
„Allerdings“, sagte er verärgert. „Und was machen Sie hier?“
Auf seinen schroffen Ton reagierte sie wie ein Boxer auf den Gong. „Ich wohne hier“, sagte sie sehr bestimmt. „Dies ist meine Wohnung.“
„Sie wohnen hier?“ Er schaute kurz auf das Klingelschild. „Aber hier steht mein Name dran, und dort hängt mein Mantel an der Garderobe.“ Während er sprach, war sein Blick an ihr vorbei in den Flur geglitten, wo neben dem Spiegel tatsächlich noch immer der Ledermantel hing.
Hatte Claudine sich je ausgemalt, wie eine erste Begegnung mit Martin Roth verlaufen könnte? Nein, denn sonst wäre sie auf diesen Moment besser vorbereitet gewesen. Sie hatte gehofft, seinen Aufenthaltsort herauszufinden, sich also aus der Ferne mit ihm in Verbindung zu setzen, um ihn darauf vorzubereiten, was inzwischen passiert war.
„Hören Sie, ich kann Ihnen gern den Mietvertrag zeigen. Im Übrigen bin ich im Begriff, hier wieder auszuziehen, aber für den Augenblick müssen Sie sich damit abfinden, dass ich mich vollkommen zu Recht hier aufhalte.“
Er schien schnell zu begreifen. „Rubens, dieser Schlusenheini!“ stöhnte er. „Trotzdem verstehe ich nicht, warum das Türschild und andere Sachen von mir – “
Claudine unterbrach ihn. „Müssen wir das zwischen Tür und Angel besprechen? Kommen Sie doch bitte herein, und ich werde versuchen, Ihnen das alles zu erklären.“
Er nickte, anders als Fissler damals, zögerte er keine Sekunde, als Claudine einen Schritt zurückwich, um ihn eintreten zu lassen. Mit großer Selbstverständlichkeit legte er den Weihnachtsbaum im Korridor ab und machte ein paar Schritte, um schnelle Blicke in die Küche und die Zimmer zu werfen. Ein Mann, der nach längerer Abwesenheit nach Hause kam.
„Ist ja alles noch da“, sagte er. Wie kommt’s, wenn das jetzt Ihre Wohnung ist?“
„Möbelübernahme“, erklärte Claudine. „Der Hauswirt hat die rechtzeitige Räumung oder Entrümpelung versäumt, und um früher einziehen zu können, habe ich mich bereit erklärt, die Einrichtung zu übernehmen. Auch das steht im Mietvertrag. Mir passte das seinerzeit ganz gut, weil ich nur mit zwei Koffern hier eingezogen bin. Mit denen da.“ Sie wies mit einem Kopfnicken auf die beiden Gepäckstücke, die griffbereit neben der Flurgarderobe standen. „Und genauso ziehe ich wieder aus. Mein Freund und ich haben uns ausgesöhnt. Wären sie zehn Minuten später gekommen, wäre ich weg gewesen.“
Während sie sprach, folgte ihr Blick Martin, der ungeniert Raum für Raum betrat, sich kurz umschaute, dann wieder in den Flur zurückkehrte, um seinerseits Claudine mit einem kurzen Blick zu messen. Sie merkte, dass seine Ungezwungenheit sie nicht störte. Es war seine Wohnung. Es waren seine Möbel. Deutlicher als jetzt hatte sie das nie empfunden.
„Gekündigt habe ich den Mietvertrag noch nicht. Das will ich gleich nach Weihnachten tun. Ich glaube, die Kündigungsfrist beträgt drei Monat. Zeit für Sie, das mit dem Hauswirt zu regeln und dann ganz offiziell wieder hier zu wohnen. Übrigens hat Herr Klausen ihre persönlichen Dokumente in Verwahrung genommen.“
„Ich bringe ihn um“, murmelte Martin.
„Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass Klausen mit sich reden lässt, wenn er die näheren Umstände erfährt“, sagte Claudine.
„Von näheren Umständen wissen sie also auch?“ Er schaute sie scharf an. „Nein, umbringen werde ich meinen Freund Rubens. Keine Sorge, wir haben uns gegenseitig schon mehrmals umgebracht und es jedes Mal überlebt.“
„Die näheren Umstände – . Sie werden es nach und nach ja ohnehin erfahren. Also, was die Probleme mit den Mietzahlungen angeht, weiß ich das von Rubens, den ich schließlich auch ausfindig gemacht habe. Davor aber hatte ich auch mit Ihrer Cousine Paula und mit Libby in Salt Lake City gesprochen. Ich vermute, Sie finden das aufdringlich und völlig unangemessen, aber mir lag daran, Sie ausfindig zu machen. Mir war ziemlich früh klar, das Sie vermutlich nichts davon wussten, dass hier einiges aus dem Ruder gelaufen war. Ich wollte Sie darauf vorbereiten und Sie fragen, wie ich mit Ihren persönlichen Sachen verfahren sollte.“
Er nickte nur. Dann fragte er: „Sie brauchen nicht zufällig einen Weihnachtsbaum? Ich nehme an, in ein Hotelzimmer lässt man mich damit nicht einziehen.“
„Nein, ich brauche keinen Baum“, sagte Claudine, „aber vielleicht müssen sie ja auch in kein Hotel.“ Ihr lag auf der Zunge, zu sagen, da gäbe es immerhin noch sein Büro. Nur wie hätte sie erklären sollen, woher sie davon wusste, ohne Vicky ins Spiel zu bringen? Also machte sie ihm das Angebot, das ihr unter den gegebenen Umständen auch viel naheliegender erschien, als ihn an seine Geschäftsadresse zu erinnern. „Da ich sowieso gehe, können sie genauso gut hierbleiben, und es wird beinahe so sein, als wären Sie einfach nach Hause gekommen. Ein paar Sachen habe ich umgeräumt. Vielleicht sollte ich Ihnen das noch kurz zeigen.“
„Und was machen Sie, wenn der Hauswirt mich als Mieter nicht mehr haben will, ich mich dann aber weigere, aus der Wohnung auszuziehen? Zahlen Sie dann meine Miete weiter, bis man mich mit Polizeigewalt aus der Wohnung setzt?“ fragte Martin provozierend.
„Würden Sie das denn tun?“ Claudine war maßlos erstaunt über die Art, wie er sie darauf aufmerksam machte, dass ihr Angebot sehr leichtsinnig war.
„Nein, aber Sie kennen mich ja nicht. Sie sollten davon ausgehen, dass so etwas passieren könnte“, sagte er ernst.
Mit den Worten Sie kennen mich nicht‘ hatte er sie verletzt, aber das wollte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen. „Ich gehe davon aus, dass jemand, dem gegenüber ich mich mehr als fair verhalte, mir das nicht mit einer Gemeinheit heimzahlt.“
„Dann sind Sie zu gut für diese Welt.“ In Martin Roths Augen blitzte es.
„Und Sie sind demnach schlecht genug für diese Welt“, stellte Claudine fest und versuchte, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Sie war enttäuscht. Auf den ersten Blick mochte er ein Supertyp sein, aber so, wie er redete, passte es kein bisschen zu der Hymne auf seinen Charakter, die sein Freund Rubens zum Besten gegeben hatte. Auch seine nächste Erwiderung hatte nichts Verbindliches.
„Nein“, sagte er, „deshalb sage ich Ihnen ja, dass Sie zumindest theoretisch einen Fehler machen.“
Claudine wurde ärgerlich.
„Ihre Theorien interessieren mich nicht, Herr Roth. Ich habe Ihnen angeboten, dass Sie in der Wohnung bleiben können. Da der Hauswirt das Schloss hat auswechseln lassen, bekommen Sie meine Schlüssel. Wenn Ihnen dieses Angebot zu dumm erscheint, um es annehmen zu können, dann gehen Sie eben jetzt wieder, und wir beide setzen uns nach Weihnachten mit dem Vermieter in Verbindung – ich wegen der Kündigung, Sie, um vielleicht einen neuen Mietvertrag zu bekommen.“

Es war der frühe Nachmittag des 24. Dezember, sie standen sich wie Kontrahenten gegenüber neben dem Weihnachtsbaum, der wie ein im Netz gefangener großer grüner Fisch am Boden lag, und es war eine absolut lächerliche Situation.
Martin war der Erste, der zu lachen begann – ein leises, etwas verlegenes und um Entschuldigung bittendes Lachen. Dann sagte er:
„Sie wollten mir zeigen, wo ich meinen Schlafanzug jetzt finde?“
„Können wir vielleicht mit der Küche anfangen?“ fragte Claudine, und Martin folgte ihr dorthin.

Claudine öffnete die Schranktüren. „Ich habe eine Ihrer Tassen verschenkt, die Du-bist-doof-Tasse. Wenn sie Ihnen wichtig ist, erbitte ich sie zurück.“
Er grinste. „Ich habe sie immer die Selber-doof-Tasse genannt. Wenn Rubens mich besucht, wird er sie vermissen, aber Strafe muss sein.“
„Bis auf ein paar Vorräte, die nicht mehr gut waren, ist wohl alles noch da, und Sie werden einiges finden, was ich dazugekauft habe und nicht mitnehmen will. Ein Teetrinker sind sie wohl nicht.“
„Ich war es nicht“, gab Martin zu. „Das hat sich inzwischen geändert. Schwer, in den Staaten vernünftigen Kaffee zu bekommen.“
„Dann trifft sich das ja gut.“ Claudine merkte, dass sie große Lust hatte, ihn danach auszufragen, wie er das letzte Jahr verbracht hatte, aber sie verbot es sich, und sie gingen ins Wohnzimmer.
„Die Bücher stehen noch so wie früher. Ein Buch, das Herrn Fissler gehörte, hat er von mir zurück erbeten, und ich habe es ihm gegeben.“ Claudine plapperte immer weiter, ganz gegen ihre Gewohnheit. Sie kannte Männer, die nicht gern und nicht viel redeten. Sie kannte wortkarge, einsilbige Männer. Martin war der erste wahre große Schweiger, dem sie begegnete. Ihr eigenes Gequassel machte sie atemlos. Sie kam sich dumm vor, aber sie konnte nicht aufhören.
„Im Schrank ist wohl auch alles am alten Platz. Meine persönlichen Sachen habe ich eingepackt und nehme sie heute mit. Bleiben nur noch meine Bilder. Die wollte ich nach Weihnachten abholen. Sie sind ohnehin noch verpackt und stehen im Korridor. Das Telefon läuft natürlich noch auf meinen Namen, ebenso wie der Strom. Wenn Sie sich mit Klausen einigen, melden wir das so schnell wie möglich um.“
Ihr fiel nichts mehr ein.
Wie zu ihrer Rettung klingelte in diesem Moment ihr Handy.

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Leben mit Martin (70)

Die Chronistin dieser Ereignisse findet es unangebracht, die darauffolgenden vierundzwanzig Stunden näher zu schildern, denn Claudine und Florian verbrachten den größten Teil davon im Bett, und ein Paar, das sich gerade versöhnt hat, ist zu schier unbeschreiblichen Gesten der Hingabe fähig.

Erwähnt sei ein kleines Intermezzo beim betreten des Schlafzimmers, als Claudine erstaunt feststellte, dass über dem Bett nun dieselbe Aktzeichnung hing, die sich auch über Martins Bett befand und ihren Platz behalten hatte.
„Du hast ja denselben Druck aufgetrieben“, sagte sie erstaunt.
„Ich wollte wenigstens unter demselben Bild schlafen wie du“, erwiderte Florian, „aber ich habe das Original. Schließlich muss ein Mann immer besser sein als der andere Mann.“

Erwähnt sei auch, dass Frau Ludwig irgendwann die Tassen aus dem Arbeitszimmer räumte und sehr bemüht war, in der Küche so gut wie kein Geräusch zu machen, um später ebenso leise und mit einem versonnenen Lächeln im Gesicht das Haus zu verlassen.

Am nächsten Vormittag saßen Claudine und Florian wieder im Arbeitszimmer. Beiden gemeinsam waren die Augenringe, denn weiße Nächte fordern ihren Tribut. Sehr müde und sehr glücklich telefonierte Claudine mit jedem, der es erfahren sollte.
Ihre Mutter war keineswegs enttäuscht, dass sie für den Heiligabend absagte. Sie weinte vor Glück und meinte, diese Nachricht sei ihr schönstes Weihnachtsgeschenk, und sie freue sich unbändig, dass beide am ersten Feiertag zum Essen kämen.
Vicky sagte: „Du bist ja verrückt, aber so glücklich, wie du dich anhörst, wünsche ich dir natürlich, dass es ewig so bleibt.“
Barbara sagte: „Na gut, dann gehe ich Silvester seit ewigen Zeiten mal wieder in Die Busche.“ Und dann meinte sie: „Das ist eines der beiden möglichen Happyends, die ich dir gewünscht habe, und es ist wohl das bessere von beiden.“
Nur Rubens schien ein bisschen enttäuscht zu sein, vielleicht aber auch nur beunruhigt, weil er sich nun mit dem Hauswirt würde herumschlagen müssen, aber Claudine versprach ihm, ein gutes Wort einzulegen und dabei anzudeuten, dass die Wohnung seinerzeit nicht ordnungsgemäß geräumt worden war, wie sie von ihrer Juristenfreundin wüsste. Zumindest bluffen konnte man ja, und außerdem musste sie die vertragliche Kündigungsfrist für die Wohnung einhalten. Es bestand immer noch die Aussicht, dass Martin zurückkäme, bevor sie ablief.
Mit Carsten telefonierte Florian selbst. Es war ein Männergespräch und hörte sich eher an, als wäre von einer geschäftlichen Transaktion die Rede. Nur am Ende lachte Florian herzlich, war aber nicht bereit, Claudine zu verraten, was Carsten gesagt hatte, um ihn derartig zu erheitern.

„Eigentlich schade, dass wir nicht zu Silvester nach London fliegen“, sagte Claudine, als sie alle Telefonate erledigt hatten.
„Ach, du Schreck! Tante Margret!“ Florian tat, als falle er rückwärts in Ohnmacht. Er hatte vergessen, ihr abzusagen. Vielleicht aber war es für eine Zusage noch nicht zu spät.
Als Florian seine Tante am Telefon hatte, druckste er ein bisschen herum, sie hätten sich noch nicht gemeldet, weil sie beide zur Zeit soviel um die Ohren hatten, bis gestern sei völlig unklar gewesen, ob sie es überhaupt einrichten könnten, aber wenn man sie nicht bereits von der Gästeliste gestrichen hätte – .
Nein, sie waren nicht von der Liste gestrichen, sondern herzlich willkommen.

Nachdem auch das geklärt war, stritten sie ein wenig miteinander. Florian wollte Claudine nicht fortlassen, aber sie wollte noch einmal in der Wohnung übernachten und ihre Koffer allein packen.
„Ich rufe Frau Ludwig an, damit sie dir hilft, wenn du dir schon nicht von mir helfen lassen willst“, bot er an.
Claudine lehnte ab. „Ich bin allein gegangen, und ich werde auch allein zurückkommen.“

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Leben mit Martin (69)

Claudine, die ihre gemütliche Sitzhaltung schon aufgegeben hatte, um in dem Moment, in dem das Zuhören unerträglich für sie würde, aufzustehen und sich zu verabschieden, lehnte sich wieder zurück. Und Florian begann, zu erzählen.

„Das muss im frühen Sommer gewesen sein, aber es war ziemlich kühl. Ich hatte mittags mit einem Verleger aus München und seiner Frau gegessen. Am späten Nachmittag wollten sie zurückfliegen. Aber die Frau wollte unbedingt noch ins KaDeWe. Eigentlich in die Lebensmittelabteilung. Als ob sie in München nicht genug Feinkost hätten! Warum auch immer, ich fuhr also mit ihnen hin. Auf dem Weg zur Rolltreppe blieben wir in der Kosmetikabteilung hängen, weil die Frau – sie war eine etwas aufgedrehte Person – plötzlich Parfums ausprobieren wollte. Ihr Mann nahm das mit souveräner Nachsicht hin. Und ich war ganz froh. So hinter ihr her schlendernd, gelang es mir, ihn noch zu einem kleinen Zugeständnis zu bewegen. Da kam seine Frau plötzlich auf uns zu, einen Flakon in der Hand. Sie fragte ihn etwas in der Art wie, ob er das aufdringlich fände oder ob es ihm gefiele, und hielt ihm einen von diesen Teststreifen aus Papier unter die Nase. Es schien ihm zu gefallen, und dann wollte sie sich selbst wohl etwas auf den Unterarm sprühen aber hatte dabei den Flakon verdreht. Jedenfalls bekam ich die Ladung ab, weil ich daneben stand. Wir lachten. Dann sagte sie: ‚Ihre Frau wird sich wundern, wenn Sie nach Hause kommen. Ich hoffe, Sie bekommen keinen Ärger. Wenn es zum Schlimmsten kommt, geben Sie ihr unsere Telefonnummer. Ich werde mich schuldig bekennen.‘ – Mir erschien das so lächerlich und völlig übertrieben. Und vielleicht sagte ich nur deshalb, dass ich selbst dazu nichts sagen könnte, weil ich seit einem Unfall in meiner Kindheit keinen Geruchssinn habe. Du weißt, im Geschäftsleben sollte man Schwächen nie zugeben, selbst wenn sie gar nichts mit dem Geschäft zu tun haben. Ich ärgerte mich jedenfalls schon über mich selbst, kaum dass ich es ausgesprochen hatte. Und noch mehr ärgerte ich mich, als diese Frau überhaupt nicht mehr aufhörte zu lachen! ‚Dann werden sie wohl erleben, wie fein der Geruchssinn von Frauen ist, sagte sie. Ich habe mich dann verabschiedet. Ich hatte tatsächlich noch einen anderen Termin. Die Beiden sind allein rauf in die Lebensmittelabteilung. Später wollten sie sich ein Taxi zum Flughafen nehmen. Wieder im Auto, dachte ich, ich bin gespannt, ob du tatsächlich etwas riechst und mich fragst. Aber bis ich nach Hause kam, hatte ich es schon wieder vergessen, zumal ich abends auch noch eine Verabredung hatte, die sich in die Länge zog. Erst am nächsten Morgen, als ich überlegte, ob ich den Mantel anziehen sollte, oder ob es warm genug wäre, ohne Mantel aus dem Haus zu gehen, fiel es mir wieder ein, und ich dachte, wahrscheinlich war das Parfum längst verflogen, und du hattest gar nichts merken können. – Ich weiß selbst nicht, warum mir der Gedanke danach nicht endgültig aus dem Kopf ging. Jedenfalls bin ich zwei oder drei Tage später noch mal ins KaDeWe gegangen. Ich hätte auch in irgendeine andere Parfümerie gehen können, aber ich kenne mich mit Parfums überhaupt nicht aus, hatte mir auch den Namen nicht gemerkt, aber ich konnte mich erinnern, wo wir gestanden hatten und wie der Flakon aussah. Sie hatte ja die ganze Zeit damit herumgefuchtelt. Als ich ihn entdeckte, fragte ich eine Verkäuferin, ob das ein starker oder eher dezenter Duft sei. Sie sagte, es wäre ein sehr markanter Duft und ohne dass ich danach gefragt hatte, fügte sie noch hinzu: und sehr anhaltend. Und da muss mich der Teufel geritten haben. Ich kaufte es. Ich wollte es plötzlich wissen.“
„Was wolltest du wissen?“ fragte Claudine beinahe tonlos in seine Pause hinein, in der Florian einen Schluck aus seiner Tasse nahm.
„Ob du eifersüchtig wärst. Auch an dem Abend hatte ich noch einen Termin, und auf dem Nachhauseweg sprühte ich mir im Auto das Zeug auf den Pullunder, den ich angezogen hatte, weil es eine Verabredung im Yachtclub war und ich befürchten musste, dass wir eine Runde auf einem Boot drehen würden. Abends wurde es immer noch kalt. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil ich zwei Ecken vor unserem Haus Willy auf der Straße sah, unseren Nachbarn. Er hatte mal wieder zu viel getrunken und wirkte recht unsicher auf den Beinen. Ich hielt an und nahm ihn mit. Kaum war er zu mir ins Auto gestiegen, sagte er: Mann, Florian, wo kommst du denn her? Du riechst ja wie ein Freudenhaus.Ich tischte ihm die Geschichte von den Geschäftsfreunden, die ins KaDeWe wollten, auf. Willy sagte: Ich glaube dir, aber ob deine Frau dir auch glaubt – ‘ Ich wusste jetzt jedenfalls, dass ich mit dem Parfum übertrieben hatte. Ich zog den Pullunder noch im Auto aus und warf ihn zur Wäsche, bevor ich ins Schlafzimmer rauf ging. Mochte Frau Ludwig sich darüber wundern. Ich verstehe selbst nicht, warum ich mit dem Blödsinn nicht gleich wieder aufgehört und das Parfum einfach weggeworfen habe. Aber ich machte weiter, und es dauerte nicht lange, bis mir völlig klar war, dass du es bemerkt haben musstest. Nicht nur, weil schließlich dein Geruchssinn einwandfrei funktioniert, sondern auch weil sich zwischen uns etwas veränderte. Du schienst gar nicht mehr zu erwarten, dass ich dich zu geschäftlichen Terminen am Abend mitnahm. Du fragtest nicht mehr danach. Wenn ich nach Hause kam, schliefst du schon oder tatest zumindest, als würdest du schlafen, statt wie früher noch ein Buch zu lesen und auf mich zu warten, um mich zu fragen, wie es war. Ich dachte, irgendwann muss sie doch etwas sagen. Sie kann das doch nicht einfach hinnehmen. Jede andere Frau würde längst eine Szene gemacht und darauf bestanden haben, dass diese vermeintliche Liebschaft sofort ein Ende hat.“
Claudine unterbrach ihn: „Diese Szene hätte ich dir bestimmt gemacht, wenn du nur einmal versucht hättest, mich anzurühren. Ich wäre explodiert. Aber du hast es nicht versucht.“
Florian dachte darüber nach. Dann nickte er. „Ja. Vielleicht deshalb nicht, weil es zu diesem Spiel gehörte. Ein Spiel, das mir längst keinen Spaß mehr machte, sondern bitterer Ernst geworden war. Ich hatte natürlich weiter gegrübelt. Sieh mal, ich bin so aufgewachsen, mit sehr viel Respekt und sehr wenig Zärtlichkeit. Meine Großmutter war keine besonders gefühlsbetonte Frau, oder vielleicht versteckte sie ihre Gefühle auch nur, denn der Tod meiner Eltern hat sie sicher tief getroffen, und als drei Jahre später auch noch mein Großvater starb, glaubte sie vielleicht, sich Gefühle nicht mehr leisten zu können. Da war der Verlag, und da war die Verantwortung für mich. Beides hat sie gemeistert. Ich bezweifle, dass ich der wäre, der ich geworden bin, wenn sie meine Erziehung und Ausbildung nicht mit solcher Konsequenz betrieben hätte. Nur für Gefühle blieb nicht viel Raum. Respekt dagegen wurde großgeschrieben. Sie forderte ihn, erwies ihn mir aber auch, schon als ich noch ein Kind war. Und so habe ich mir dein Schweigen anfangs auch mit Respekt erklärt. Dann aber kamen die Zweifel. Verdiente ein Mann Respekt, der eine Liebschaft hat? In den Augen seiner Lebensgefährtin doch wohl eher nicht! Und so fragte ich mich, ob du Angst hattest, den gehobenen Lebensstandard wieder zu verlieren, wenn ein Streit zu einer Trennung führen sollte. Diesen Gedanken verwarf ich sehr schnell. Ich wusste immer, dass du zwar Stil hast aber nicht vom Luxus abhängst. Es blieb deine mögliche Angst um deinen Job als Erklärung. Deine Arbeit bedeutet dir viel. Deine Stelle im Verlag ist wie maßgeschneidert für dich. Zwar hatte ich beteuert, nicht dein Chef zu sein, und tatsächlich mische ich mich nicht in Carstens Personalentscheidungen, aber natürlich weiß ich sehr wohl, dass ich es könnte. Und ich weiß, dass du es weißt. Da blieb dann die Frage, für was für einen Scheißkerl du mich hältst, wenn du Angst um deinen Job hast, egal wie es privat zwischen uns steht. Und wenn die letzten zwei Monate etwas gebracht haben, dann dass du mir vielleicht auch jetzt nicht glaubst, sondern mich immer noch für einen Hurenbock hältst, aber wenigstens nicht mehr für ein Arschloch.“

Glaubte sie ihm? Bei dieser Erklärung musste er sich erbärmlicher vorgekommen sein, als ein Kerl, der einen Seitensprung zu gestehen hatte. Wenn es nicht die Wahrheit war, war es eine gute Geschichte. Blöd aber gut, wie die von den mit Bergamottöl versauten Teeballen. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Alles kippte, aber ihr Gleichgewichtssinn ließ sie im Stich, und sie wusste nicht, nach welcher Seite es kippte. Ein Moment absoluter Hilflosigkeit.
„Florian, ich – “
„Claudine, ich – “
Sie sagten es gleichzeitig.

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Leben mit Martin (68)

Sie drückte den Klingelknopf aus Messing und lauschte, obwohl sie wusste, dass die schwere Holztür das Geräusch sich nähernder Schritte abhielt, und so zuckte sie dann auch zusammen, als nach fast einer Minute des Wartens doch geöffnet wurde. Frau Ludwig, die Haushälterin, war eine stattliche Person, und so, wie sie in der geöffneten Tür stand und keine Anstalten machte, beiseite zu treten, um Claudine einzulassen, bevor diese ihr nicht den Grund für ihren Besuch gesagt hatte, erschien sie wie eine Riesin, die ein Schloss bewachte. Darüber hinaus war der Blick, mit dem sie Claudine maß, dazu geeignet, einen normalen Menschen zu einem Eiszapfen erstarren zu lassen, so dass Claudine auf dem Treppenabsatz angefroren wäre, hätte die aufgestaute Wut ihr nicht eingeheizt.
„Ist Herr Sendler nicht zu Hause?“ fragte Claudine und ließ es scharf und ebenfalls eisig klingen.
„Doch“, sagte Frau Ludwig und bewegte sich keinen Zentimeter.
„Nun, dann sagen Sie ihm doch bitte, dass ich hier bin und ihn sprechen möchte.“
Claudine rechnete schon damit, dass Frau Ludwig die Tür vor ihrer Nase wieder zumachen und sie wie eine Hausiererin in der Kälte warten lassen würde, aber soweit ging es dann doch nicht. Wenn sie sich auch nicht durchringen konnte, Claudine mit Worten hereinzubitten, so machte die Haushälterin doch einen Schritt zu Seite und ließ Claudine in die Diele treten, bevor sie die Tür wieder schloss. Dann verschwand sie in Richtung von Florians Arbeitszimmer.

Florian war nicht im Morgenmantel, sondern trug eine weiche Stoffhose und eine Hausjacke, die Kleidung, die er am liebsten anzog, wenn er im Winter am Schreibtisch saß. Sein Gesichtsausdruck wechselte in Sekunden von überrascht über freudig zu fragend.
„Warum stehst du hier so fremd in der Diele herum?“
„Weil ich nicht gebeten wurde, weiter einzutreten“, antwortete Claudine mit einem Blick zu Frau Ludwig, die Florian gefolgt war aber in diesem Moment in der Küche verschwand.
„Ja, Frau Ludwig ist in letzter Zeit manchmal etwas seltsam“, sagte Florian mit gedämpfter Stimme, als fürchte er selbst sich vor den launischen Anwandlungen seiner Haushälterin.
Frau Ludwig hätte ihn allerdings auch nicht gehört, wenn er laut gesprochen hätte, so heftig klapperte sie in der Küche mit Geschirr und Schubladen.
„Was ist los? Ist etwas passiert?“ fragte Florian, inzwischen besorgt, weil Claudine so ernst war.
„Nein, im Gegenteil. Es ist eher etwas nicht passiert. Ich hatte dich gebeten, mir mein Buch über Haikus zu schicken. Da ich es über die Feiertage brauche, komme ich jetzt selbst vorbei, um es mir zu holen“, erklärte Claudine kühl.
Florian machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Tut mir leid, das habe ich total vergessen. Ich bin an dem Tag, an dem du mich deswegen angerufen hattest, abends nach Paris geflogen und erst gestern zurückgekommen.“
Es dauerte keine zwei Sekunden, bis Claudine einen Zusammenhang ahnte. „Hast du mit Modiano gesprochen?“
„Unter anderem war ich deswegen dort, ja. Ich habe Modiano getroffen, mit dem Verlag gesprochen. Es war schwierig, und sie haben sich noch nicht entschieden, obwohl Barbara gute Vorarbeit geleistet hat.“

Wut, die hell entflammt ist, rauscht lauter als ein Bunsenbrenner. Erlischt sie ganz plötzlich, ist die Stille furchteinflößend. Man steht wie taub, entwaffnet und völlig schutzlos. Claudine, die eben noch das Gefühl gehabt hatte, unverwundbar zu sein, fürchtete sich plötzlich davor, eine Frau könnte im nächsten Augenblick aus einer Tür treten, noch nach Florians Bett duften, und wenn sie dazu nach Amarige roch, hätte es nicht schlimmer sein können, auch nicht schlimmer, wenn Spott oder Triumph in ihrem Blick aufblitzten. Ihr Hiersein hätte genügt, und die Möglichkeit ihres Hierseins reichte aus, damit Claudine sich wie auf dem Sprung fühlte. Ihre Worte überstürzten sich fast, als sie antwortete.
„Barbara hat es mir gestern gesagt – allerdings nicht, dass du selbst dich darum kümmerst. Das wusste sie ja vielleicht auch gar nicht. Wir haben unsere Weihnachtsgeschenke getauscht, und sie hat mir eine Buchhülle geschenkt mit Modianos neuem Roman darin. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Über die Buchhülle, meine ich. Und noch besteht ja eine Chance, dass wir, besser gesagt, dass du – .“ Sie brach ab.
Florian nickte.
Claudine war nervös und wollte am liebsten sofort wieder gehen, aber da war ja noch das, was sie als Grund für ihren Auftritt hier vorgeschoben hatte. „Ich suche mir dann schnell mein Buch heraus und bin schon wieder weg. Oder möchtest du es selbst holen? Ich meine, falls – .“
Florian verstand endlich, was sie so unruhig machte.
„Ich kann mir vorstellen, dass du kurz vor Weihnachten noch einiges erledigen willst. Andererseits fände ich es schön, wenn du Zeit hättest, einen Kaffee mit mir zu trinken.“
„Gerne, wenn ich dich nicht störe“, sagte Claudine, immer noch vorsichtig.
„Im Gegenteil.“ Florian ging zur Küchentür und rief der Haushälterin zu, sie möchte ihnen zwei Cappuccino machen und ins Arbeitszimmer bringen.
Claudine war froh, dass er nicht das Wohnzimmer vorschlug, das sie etwas abschätzig das Fernsehzimmer genannt hatte, weil sie dort eigentlich nicht gewohnt, sondern nur ferngesehen hatten, was ohnehin nicht regelmäßig vorgekommen war.
Um miteinander zu reden oder Kaffee zu trinken, war Florians Zimmer viel gemütlicher. Oft hatte sie dort auch gelesen, während Florian an seinem Schreibtisch arbeitete. Nichts schien sich hier verändert zu haben. Wenn es nicht jeder Logik widersprochen hätte, wäre Claudine bereit gewesen, zu beschwören, dass selbst die Papiere auf Florians Schreibtisch genau dieselben waren und genauso dalagen, wie vor einem Jahr, als sie hier gesessen und über die Planung für die Feiertage gesprochen hatten.

Frau Ludwig brachte das Tablett mit den Cappuccinos. Der Blick, den sie Claudine diesmal zuwarf, war nicht mehr ganz so eisig. Eher lag eine grimmige Warnung darin. Für ihr Benehmen gab es nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder gefiel ihr Florians Neue so gut, dass sie fürchtete, Claudine könnte das junge Glück stören. Oder Florian hatte die Amarige-Dame tatsächlich hier nicht eingeführt, und Frau Ludwig hielt ihn für einen bedauernswerten, von einem undankbaren Weib böswillig verlassenen Mann. Claudine gefiel die eine Erklärung so wenig wie die andere. Florian dagegen sah über die Miene seiner Haushälterin einfach hinweg. Vielleicht behagte es ihm sogar, von einem Drachen beschützt zu werden.

Die Unterhaltung kam etwas mühsam in Gang. Erst als Claudine sich einen Ruck gab und berichtete, dass und warum sie inzwischen wusste, dass Martin Roth offenbar in Amerika unterwegs war, auf der Suche nach seinem Vater, dass auch sein bester Freund nicht wusste, wo genau er sich aufhielt, und wann er zurückkäme, und dass die nicht gezahlte Miete eine Nachlässigkeit eben dieses Freundes gewesen war, bekam die Atmosphäre fast jene Ungezwungenheit, die ihr von früher vertraut war. Florian machte keine Bemerkung darüber, wie viel Mühe sie sich offenbar gegeben hatte, um Martin ausfindig zu machen. Er reagierte nicht einmal überrascht oder mit Unverständnis, als sie sagte, sie wäre bereit, die Wohnung wieder aufzugeben, wenn der Vermisste sich doch wieder einfinden sollte, so dass Claudine ihn schließlich fragte: „Oder findest du das falsch?“
„Nein, nein“, sagte Florian schnell. „Ich fände es nur falsch, wenn du nicht ausziehen und er bei dir einziehen würde.“
„So vertraut wird man mit einem Menschen nicht, nur weil man ein paar Wochen lang in seinen Möbeln gewohnt hat“, sagte Claudine.
Florian bezweifelte das. „Ich finde, das ist schon ziemlich intim. Es waren ja nicht nur die Möbel. Es waren das Bettzeug, die Tassen, die Bücher, einfach alles. Du wirst nicht bestreiten, dass du dir eine Menge Gedanken gemacht hast, was für ein Mann das ist.“
„Nein, das bestreite ich nicht“, gab Claudine zu, „aber vielleicht wäre ich auch geradezu schockiert, wie verschieden die reale Person ist von der, die ich mir vorgestellt habe.“
„Möglich. Aber schon, dass du dir eine Person vorgestellt hast, bestätigt, was ich mit intim meine. Und wenn der reale Martin dann doch nicht soviel anders wäre als der imaginäre, könnte es doch sein, dass es dir geradezu normal vorkäme, wenn … das Ganze eine Fortsetzung hätte.“
„An was für eine Art Fortsetzung denkst du denn da?“ bohrte Claudine nach. „Du meinst, es macht keinen großen Unterschied, ob ich nur mit dem Inventar oder mit dem Mann lebe? Das kann nicht dein Ernst sein. Aber selbst wenn es so wäre, was würde dich daran stören?“
„Ich wäre eifersüchtig“, antwortete Florian ganz selbstverständlich.
Claudine lachte auf. „Du bist witzig.“
„Keineswegs“, sagte Florian.
Wieder entstand eine unbehagliche Schweigepause, wie zu Beginn der Unterhaltung. Endlich setzte Florian von neuem zu sprechen an. „Claudine, ich denke, ich sollte dir endlich etwas erklären.“
Sie hob abwehrend die Hände. Eine Erklärung war das Letzte, was sie sich anhören wollte. Selbst wenn es nur eine Liebschaft gewesen sein sollte, wollte sie nichts von „männlicher Schwäche“, nichts von „belanglos“ und auch nicht „es tut mir leid“ hören. Nichts von alldem, was Männer in solchen Situation als Entschuldigung vorzubringen pflegen. Ebenso wenig wollte sie sich abermals anhören müssen, dass im Grunde sie die Schuldige sei.
„Du musst mir nichts erklären“, beeilte sie sich zu sagen.
Florian gab nicht nach. „Doch, das muss ich. Auch wenn du mich danach absolut lächerlich finden wirst, denn anders kann auch ich mich nicht sehen. Schau mich nicht so an, als würdest du befürchten, dass jetzt jämmerliche Eingeständnisse schwacher Momente kommen. Die würde ich dir ersparen. Was ich dir erzählen möchte, gleicht eher einem Boulevardstück. Wir beide würden uns daran ergötzen und viel lachen, wenn die Hauptfiguren darin nicht du und ich wären.“

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Leben mit Martin (67)

Solange es Menschen gibt, und solange sie einander Geschichten erzählen, verbindet sich das Unheimliche, das Unerklärliche mit der Nacht. Das liegt vor allem an der Dunkelheit, die uns Dinge und Lebewesen nicht oder nur undeutlich oder anders wahrnehmen lässt. Es liegt aber auch am Phänomen des Schlafes und der Träume, und jeder Mensch träumt in jeder Nacht, selbst wenn er sich beim Erwachen nicht daran erinnern kann.

Claudine hatte keine Erklärung dafür, warum sie am Freitagabend müde aber gutgelaunt, ja, geradezu glücklich eingeschlafen war, und am Samstagmorgen erwachte mit einem Gefühl gähnender Leere und Verlassenheit. Der frisch gebrühte Kaffee half auch nicht. Sie hatte keinen Grund unzufrieden zu sein, hielt sie sich selbst vor. Immer noch bestand eine Aussicht, dass sie Modiano würde übersetzen dürfen. Alle Befürchtungen, dass ihr Job gefährdet war, hatten sich in Luft aufgelöst. Sie hatte es zwar nicht geschafft, sich mit Martin Roth in Verbindung zu setzen, aber sie hatte alles versucht, und sollte er wirklich zurückkommen und der Hauswirt sich nicht querstellen, würde es kein großes Problem für sie sein, sich eine andere Wohnung zu nehmen. Die Vorstellung, aus der Wohnung wieder auszuziehen, in der sie sich – das musste sie sich nun doch eingestehen – mehr wie ein Dauergast als wie zu Hause fühlte, hatte sogar etwas Reizvolles. Sie hatte den leidigen Weihnachtseinkauf mit Barbaras Hilfe bewältigt. Und überhaupt Barbara. Ihre Freundschaft war nun ganz entspannt. Claudine musste nicht mehr befürchten, daß Barbara etwas anderes für sie empfand und etwas anderes erwartete, als umgekehrt.

Und plötzlich war er da, der Verdacht. Wahrscheinlich war er die ganze Zeit schon dagewesen, aber jetzt kam er aus seiner Ecke gekrochen, klein, grau, hässlich und griesgrämig, wie jeder Verdacht, auch solche, die sich gegen uns selbst richten.
Claudine versuchte, ihn mit einer zweiten Tasse Kaffee wieder in den Schatten zu verbannen, aber er hockte sich zu ihr an den Tisch, wie jemand, der zwar selbst nichts will aber auch anderen nichts gönnt.

Sie war allein.
Sie hatte ihre Eltern. Sie hatte gute Freundinnen. Sie hatte die Kollegen. Sie hatte Nachbarn. Sie hatte niemanden.
Solange sie noch gedacht hatte, dass Barbara sich Hoffnungen machte – .
Aber was für ein Unsinn! Sie war doch erleichtert, dass alles nun geklärt war.
Plötzlich konnte sie sich wieder an den Traum erinnern. Er schwebte durch ihre Gedanken wie ein Schatten im Nebel. Es hatte etwas mit ihrem Terminkalender zu tun. Jemand las ihren Namen im Terminkalender. Jemand, den sie nicht sah. Sie hatte nur die Stimme gehört und trotzdem gewusst, dass er in ihrem Terminkalender las. Und sie hatte versucht zu sagen: Nein, das stimmt nicht.
Aber er hatte ihren Namen vorgelesen, dann die Anschrift. Die in Nikolassee. Das war es. Sie hatte die Anschrift im Terminkalender nicht ausgestrichen und die neue hineingeschrieben. Das Jahr war fast zu Ende. Sie würde die richtige Anschrift in den neuen Terminkalender schreiben. Aber es ließ ihr keine Ruhe. Sie holte ihre Handtasche, nahm den Terminkalender heraus und schlug ihn auf.
Sie strich die Anschrift durch und schrieb die neue darunter.
Mit der Telefonnummer dasselbe.
Im Notfall zu benachrichtigen: Florian Sendler.
Sie versuchte zu sagen: Nein, das stimmt auch nicht mehr.
Sie fing an zu weinen.

Nach vier Jahren würde es das erste Weihnachtsfest sein, das sie ohne Florian verbrachte. Nicht, dass Weihnachten ihr viel bedeutete. Nicht, dass sie jemals gedacht hatte, für Florian wäre ein Leben ohne sie undenkbar. Wie denkbar es war, hatte er inzwischen ja auch bewiesen. Aber das Vertrackte an den sentimentalen Anlässen ist, dass sie einen an Dinge glauben lassen wollen wie Frieden auf Erden, Liebe unter den Menschen, du und ich bis in die Ewigkeit. – Man weiß, dass es völliger Blödsinn ist, so etwas zu denken. Aber bei solchen Anlässen – und Weihnachten gehört nun mal dazu – denkt man es doch. Oder besser, man fühlt es, denn ein halbwegs vernunftbegabter Mensch verwirft so einen Gedanken, bevor er ihn zu Ende formuliert hat. Aber er denkt ein Wir, wie man in der ersten Person Plural nur von sich und einem einzigen Menschen im ganzen Universum spricht. Gegen alle Vernunft. Und so unvernünftig wie es war, wünschte Claudine sich an diesem Morgen verzweifelt, wir denken und sagen zu können. Zwei Monate lang hatte ein nur durch seine Hinterlassenschaft evidenter Mann sie hinreichend beschäftigt, um nicht nachzudenken über jenen anderen Mann, den sie auch nach Jahren weniger zu kennen glaubte als Martin. Den Einen verstand sie nicht, obwohl sie mit ihm unter einem Dach gelebt hatte. Dem Anderen war sie nie begegnet, und ihre Vorstellung von ihm konnte eine ganz falsche sein. Wonach sie sich sehnte war jemand, den sie verstand, und der wirklich da war. Bisher hatte sie nur eine Enttäuschung gegen eine Illusion getauscht. Sie musste aus dieser Wohnung ausziehen, egal ob und wann Martin Roth auftauchte. Sie würde Klausen anrufen, und dann sollte Rubens sehen, wie er alles Weitere mit dem Hauswirt regelte. Schließlich hatte Martin seinen besten Freund mit dieser Aufgabe betraut und wäre sicher nicht begeistert, zu erfahren, dass eine Fremde sich zur Sachwalterin gemacht hatte. Unter das Kapitel Martin Roth einen dicken Strich zu ziehen, erschien ihr plötzlich wie eine Befreiung. Aber das genügte nicht. Einen ebenso dicken Strich musste sie unter das Kapitel Florian ziehen, und das würde nicht gelingen, solange ihr berufliches Wohl und Wehe von ihm abhing. Sie musste sich einen anderen Job suchen. Vielleicht würde sie wieder eine Zeit lang als freie Übersetzerin arbeiten müssen, aber das hatte sie früher auch schon getan, und es gab keinen Grund, sich davor zu fürchten, selbst wenn es bedeutete, nicht Modiano zu übersetzen, was ja nach wie vor nur ein Traum war. Schluss mit Träumen, die sowieso irgendwann platzten! Sie wollte Realität. Sie wollte etwas zum Anfassen. Keinen verschwundenen Vormieter, der sie im Grunde nichts anging, und keinen Ex-Freund als Chef, der sich in seiner Großmut sonnte und es andererseits nicht einmal schaffte, ihr die kleinste Bitte zu erfüllen.
Denn plötzlich war ihr wieder eingefallen, dass Florian das Buch nicht geschickt hatte, und jetzt regte sie sich maßlos darüber auf. Sie hatte es nicht gebraucht, aber das konnte er ja nicht wissen. Er musste davon ausgehen, dass sie es dringend benötigte. War es denn zu viel verlangt, dass er es in einen Umschlag steckte und in einen Postkasten warf? Es war doch nur ein dünnes Taschenbuch.

Ohne sich noch darüber Gedanken zu machen, wie sinnlos und vollkommen überflüssig das Unternehmen war, und was für eine Art von Empfang sie unter Umständen erwartete, ließ sie das Frühstück ausfallen und stürzte unter die Dusche. Erst auf der Fahrt nach Nikolassee dachte Claudine an die Wahrscheinlichkeit, dass Florian nicht allein war. Vielleicht würden er und die Amarige-Trägerin gerade in Morgenmänteln beim Frühstück sitzen. Doch je ungelegener sie käme, desto besser! Als sie die Villa erreichte, glühte sie vor Wut und hatte das Gefühl, mit ihrem Zorn gepanzert zu sein wie mit einer Rüstung.

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Leben mit Martin (66)

Als Claudine am Freitag mit Barbara beim Mittagessen saß, konnte nicht einmal mehr der Duft der Tagliatelle mit Steinpilzen sie davon ablenken, dass sie immer noch kein Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern hatte.
„Warum suchst du denn so krampfhaft nach einem Geschenk für beide zusammen?“ fragte Barbara. „Nur weil sie dir auch immer gemeinsam etwas schenken?“
„Nein, weil ich es mein Leben lang so gemacht habe“, sagte Claudine. „Die individuellen Geschenke gibt es zu den Geburtstagen.“
„Na, schön“, gab Barbara nach. „Was hältst du davon, wenn wir nach Feierabend noch mal zusammen losziehen? Du wirst sehen, wie schnell wir etwas finden.“
„Du kennst meine Eltern nicht“, sagte Claudine, und das war nicht nur eine Floskel. Tatsächlich war Barbara Claudines Eltern noch nie begegnet. Plötzlich fragte sich Claudine, ob sie das absichtlich verhindert hatte – vielleicht aus der, wenn auch schwachen, Befürchtung heraus, zumindest ihre Mutter könnte Barbaras Anderssein bemerken und sich unnötige Gedanken machen.
Barbara sah darin keinen Hinderungsgrund. „Eben!“ sagte sie. „Deswegen sind sie für mich ja einfach typische Eltern mit den paar besonderen Eigenheiten, von denen du mir erzählt hast. Und genau das macht mich zum perfekten Geschenkefinder. Du wirst sehen.“

Gute vier Stunden später saßen sie an einem kleinen Tisch in einem Coffee-Shop im Haus Huth an den Potsdamer Platz Arkaden, und um ihre Kaffeetassen herum lagen die Flyer, die Barbara aus dem Ständer vor der Theaterkasse gefischt hatte. Vor den Fenstern strudelte der Strom mit Einkaufstüten beladener Menschen und vorweihnachtlicher Berlinbesucher vorbei.
„Nun müssen wir nur noch etwas finden, das beiden gefallen würde“, sagte Barbara.
„Das sagst du so“, entgegnete Claudine und blickte skeptisch auf den Haufen bunt bedruckten Papiers.
Barbara ließ sich nicht irritieren. „Wir machen drei Stapel: Was nur deiner Mutter gefallen würde, was nur deinem Vater gefallen würde, und was beiden nicht gefallen würde. Und dann sehen wir ja, ob nicht etwas übrigbleibt, von dem du sagen würdest, es könnte beiden gefallen.“
Von den etwa dreißig Faltblättern blieben am Ende ganze drei: einer für ein Konzert in der Philharmonie, einer für eine Revue im Friedrichstadtpalast und einer für ein Varieté-Programm im Wintergarten.
Barbara nahm die drei Faltblätter wie einen Fächer in die Hand. „Willst du die Augen zumachen und eines ziehen?“
„Sei nicht albern“, wehrte Claudine ab.
Barbara runzelte unwillig die Stirn. „Warum bist du denn so gereizt, jetzt, wo wir die Lösung deines Problems praktisch in der Hand haben?“
„Ich ärgere mich nur, weil ich nicht selbst auf eine so simple Idee gekommen bin“, lenkte Claudine ein.
Barbara grinste. „Das ist doch völlig klar. Es ist für jemanden, der dem zu Beschenkenden nicht so nahesteht, immer leichter, sich etwas auszudenken. Du dagegen denkst in einem bestimmten Muster. Immer muss es etwas Praktisches sein, das sich trotzdem als Geschenk eignet und dass sie sich nicht selbst kaufen würden. Dabei kaufen sie es sich vielleicht nur deshalb nicht, weil sie wissen, dass dir sonst gar nichts mehr einfällt. So wie du dir keine Kaffeemaschine kaufst, weil du ziemlich sicher weißt, dass du sie von deinen Eltern zu Weihnachten bekommst. Es wird natürlich nicht die Maschine sein, die du ausgewählt hättest. Aber egal! Hauptsache, deine Eltern wissen, was sie dir schenken können.“
„Stimmt nicht!“ widersprach Claudine. „Ich wünsche mir überhaupt keine Kaffeemaschine. Ich habe mich nämlich daran gewöhnt, den Kaffee von Hand zu filtern. Ich hätte lieber eine von diesen kleinen Espressokannen, die man auf den Herd stellt.“
Mit einem vielsagenden Blick auf die gefächerten Flyer, die Barbara ihr immer noch entgegenhielt, fuhr sie fort: „Den Schwarzen Peter ziehen möchte ich trotzdem nicht. Wenn es meinen Eltern nicht gefallen sollte, will ich mich nicht darauf herausreden, dass es Zufall war. Lass mich die Dinger noch mal anschauen.“
Das Konzert verwarf sie als erstes. „Das ist im Februar. Bis dahin habe ich meinen Führerschein wahrscheinlich noch nicht, und ich würde meine Eltern gerne chauffieren.“
„O, Himmel!“ Barbara verdrehte die Augen. „Dann nimm das, was am längsten läuft, damit du vorher ein bisschen Praxis bekommst, und deine Eltern nicht völlig entnervt ablieferst.“
Claudine ließ sich nicht provozieren. Sie tippte auf den Wintergarten. „Ich glaube, Varieté ist die beste Wahl, und ich nehme die Karten inklusive Menü, damit – na, warum wohl?“
„Damit deine Mutter mal nicht kochen muss“, sagte Barbara und nickte verständig.

Nachdem sie die Karten geholt hatten, sagte Barbara: „Dein Weihnachtsgeschenk würde ich dir gerne heute schon geben. Ich habe es im Auto.“
Claudine war einverstanden, unter der Voraussetzung, dass Barbara sie nach Hause fuhr. „Wenn es so ist, bekommst du dein Geschenk auch heute.“

Vor Claudines Haustür war erstaunlicherweise ein Parkplatz frei. Bevor Barbara aus dem Auto stieg, angelte sie eine Tüte vom Rücksitz des Wagens, die nicht besonders groß war, ansonsten aber nichts ahnen ließ, denn auch der Inhalt war verpackt.
„Wenn wir schon die Bescherung vorverlegen, sollten wir es trotzdem ein bisschen zeremoniell gestalten“, sagte Claudine, als sie die Wohnung betraten.
Sie schälten sich aus ihren Wintermänteln, Claudine machte Tee und zündete die Kerze an.
„Das ist wirklich schön“, bewunderte Barbara das Ikebana-Gesteck. „Außerdem passend zu den Haikus, die du gerade übersetzt hast. Hast du es deshalb gekauft?“
„Wenn ich es deshalb gekauft habe, dann unbewusst“, räumte Claudine ein. „Allerdings gekauft habe ich es erst, als ich mit der Übersetzung schon fertig war, aber es kommt mir vor, als ob mir im Nachhinein etwas dadurch klargeworden ist. Nur mit Worten erklären kann ich es nicht.“
„Dann bleibt es eben unerklärt“, sagte Barbara. „Dass es schön ist, genügt ja auch.“
Sie half Claudine das Teegeschirr ins Wohnzimmer zu tragen, und als Claudine das in Geschenkpapier verpackte Bild hereinbrachte, war Barbaras Gesichtsausdruck ebenso neugierig wie zuvor der von Claudine, als sie versuchte, einen Blick in die Tüte zu werfen, – oder doch ein bißchen anders, denn in Barbaras Neugier mischte sich eine Ahnung.
„Wenn es das ist, was ich hoffe, dass es ist, dann – .“
Claudine schnitt ihr das Wort ab. „Verdammt, jetzt hast du doch schon erraten, dass ich dir eine Pinnwand aus Kork schenke. Aber auspacken darfst du sie trotzdem erst, nachdem wir Tee getrunken haben.“
Barbara stöhnte. „Als wären wir in unserer Kindheit mit dem Warten auf die Bescherung nicht genug gequält worden!“
Claudine ließ sich nicht erweichen. Im Gegenteil, sie verschwand noch einmal in der Küche und kehrte mit einer Packung Anisplätzchen zurück, die sie in eine Schale ausleerte.
„Etwas anderes habe ich nicht, was zum Tee passen würde.“
Barbara nahm einen großen Schluck, und obwohl sie sich dabei fast die Zunge verbrannt hatte, stopfte sie drei Anisplätzchen auf einmal in den Mund, spülte sie mit dem Rest in der Tasse herunter und sagte: „Fertig! Können wir jetzt die Geschenke auspacken, oder möchtest du noch das Weihnachtsoratorium hören, wie das bei uns zu Hause früher vor der Bescherung üblich war?“
Kichernd wie die Teenager, grabschten beide ihr Geschenke und machten sich daran, sie auszuwickeln, aber immerhin bemüht, mit der Verpackung nicht allzu lieblos umzugehen. Fast gleichzeitig wurden sie fertig.
„Oh, ich wusste es, ich wusste es!“ freute sich Barbara. „Und der Rahmen ist ganz toll. Ich weiß schon jetzt, wo ich es aufhänge.“
Barbaras Wohnung war komplett in Schwarz, Weiß und Grau eingerichtet, aber in jedem Raum gab es auch etwas Rotes.
Claudine bewunderte die Buchhülle, die Barbara entweder in einem Antiquitätenladen aufgespürt haben musste, oder die sehr gekonnt künstlich gealtert war, denn das geprägte braune Leder sah abgegriffen und gerade dadurch besonders schön aus. Sie war gerührt, weil Barbara daran gedacht hatte, dass sie Bücher, die sie mit sich herumtrug, immer in gepolsterte Umschläge steckte, um sie nicht zu ramponieren.
„Der Inhalt ist allerdings weniger ein Geschenk, als ein Eingeständnis der Erfolglosigkeit meiner bisherigen Bemühungen“, erklärte Barbara. „Das heißt, das Buch ist schon ein Geschenk, und ich hoffe, du hast es noch nicht, aber sonst – .“
Claudine öffnete die Buchhülle, die mit gesteifter Atlasseide gefüttert war: Dans le café de la jeunesse perdue von Modiano, in diesem Jahr bei Gallimard in Paris erschienen.
„Nein, das habe ich noch nicht“, sagte Claudine. „Und?“ Sie schluckte vor aufgeregter Freude.
Barbara zuckte die Schultern. „Ich habe bis zuletzt gehofft, dass ich es dir geben könnte und dazu sagen, dass wir die Rechte für die deutsche Übersetzung haben, aber es gibt noch keine Zusage. Allerdings auch keine Absage.“

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Leben mit Martin (65)

„Wer immer gewinnt, ist die Bank“, sagte Claudine.
Das Wenige, was sie über Roulette wusste, wusste sie aus Romanen. Auch Françoise Sagan hatte darüber geschrieben, in ihren Memoiren. Es lag an der Null. Zero sorgte dafür, dass die Bank immer gewann.
„Ja“, sagte Rolf, „die Bank gewinnt immer. Aber auch ein paar Spieler gewinnen. Und das macht den anderen Spielern Hoffnung, auch sie selbst könnten zu den Gewinnern gehören. Trotzdem bildete ich mir ein, die Sache realistisch zu sehen. Ich wollte ja auch nicht wirklich spielen. Ich wollte nur ein System überprüfen – eines, das zumindest in der Theorie zu funktionieren schien. Darum ging es mir. Und darum ging ich wieder hin.“
„Und dann hast du verloren“, riet Claudine abermals und diesmal richtig.
„Ja. Und zwar mehr als ich beim ersten Mal gewonnen hatte. Das System war sicher, man musste nur mit genug Kapital spielen. Zwar durfte man nicht vergessen, dass es an den Spieltischen ein Limit gibt. Trotzdem konnte es nur ein verfluchtes Pech sein, wenn man so hoch setzen musste. Man glaubt ja nicht, dass man immer Glück hat. Aber man glaubt noch weniger, dass man immer Pech haben kann. Das glauben doch nur ganz hartgesottene Pessimisten. Dazu gehöre ich nicht. Ich versuchte es wieder. Und wieder. Es dauerte nicht lange, und hohe Spielgewinne wären das Einzige gewesen, was mich hätte retten können. Natürlich gewann ich auch manchmal. Aber nicht oft genug und zu wenig.“ Ungeschickt fummelte er eine weitere Zigarette aus der Packung. „Jetzt ist jedenfalls Schluss. Ich habe nichts mehr, was ich verspielen könnte. Auch keinen Kredit mehr. Ich werde es Vicky also sowieso erzählen müssen. Aber ich will bis nach Weihnachten warten, ihr wenigstens nicht das Fest verderben.“
„Solange sie glaubt, was sie jetzt glaubt, ist für sie das Fest schon verdorben“, sagte Claudine. „Und bilde dir auch nicht ein, dass es jetzt vorbei ist, und dass du nur die Finanzen wieder geregelt kriegen musst. Rolf, du bist spielsüchtig. Sobald du ein bisschen Geld hast, spielst du weiter. Irgendwann an Automaten. Du musst dich in Behandlung begeben. Aber das Allerwichtigste: Du musst es Vicky sagen. Am besten noch heute. Nutze deinen Geburtstagsbonus. Klar wird sie sauer sein, aber auch froh, dass keine andere Frau der Grund für dein Verhalten in der letzten Zeit war.“
„Sie wird jegliche Achtung vor mir verlieren. Danach wird es ihr egal sein, ob ich eine andere habe oder nicht.“ Rolf klang hoffnungslos.
Inzwischen tat er Claudine leid. Vicky war ein guter Kumpel, und wenn Frauen ihr von ihren Problemen erzählten, dann wegen ihrer pragmatischen und deshalb aufmunternden Ratschläge. Dieselbe pragmatische Einstellung aber bewahrte sie davor, ein Helfersyndrom zu entwickeln. Sie gehörte bestimmt nicht zu den Frauen, die auf Männer versessen sind, die gerettet werden müssen. Nein, es würde nicht leicht werden.
„Ob das so ist, wirst du dann sehen“, sagte Claudine. „Ich kann dir leider keinen besseren Rat geben.“
„Könntest du vielleicht – .“ Rolf brach ab.
„Mit ihr reden?“ Claudine fühlte, wie sie innerlich kalt wurde. Das war wirklich zu erbärmlich.
„Nein, eben nicht mit ihr reden. Das möchte ich selbst tun. Aber nicht vor Weihnachten. Ich nehme mir ja jetzt Zeit für sie. Sie wird keinen Grund haben, zu glauben, dass ich bei einer anderen bin.“
„Weihnachten? Es geht doch wohl eher um dein Weihnachten! Noch ein bisschen heile Welt. Noch ein paar Tage Bedenkzeit. Und wer weiß, vielleicht geschieht ja ein Wunder. Vielleicht findest du im Rinnstein einen Tausender, mit dem du es noch mal probieren könntest. Dein blöder Stolz ist dir wichtiger als eure Beziehung. Scheiße, Rolf! Wirklich Scheiße! Aber trotzdem danke fürs nach Hause Bringen!“
Sie hatte die Tür schon geöffnet, als Rolf sie abermals bat, noch zu warten.
„Könntest du wenigstens ein Wort für mich einlegen, nachdem sie mich in die Wüste geschickt hat – damit sie es sich vielleicht noch mal überlegt?“
Claudine zögerte, zog die Wagentür wieder heran und dachte nach. „Pass auf, du machst es folgendermaßen: Wenn du jetzt wieder bei ihr bist, sagst du, ich hätte dir verraten, dass sie neulich drauf und dran war, über tausend Euro für ein Cocktailkleid auszugeben.“
„Ist nicht wahr!“ sagte Rolf und musste beinahe lachen.
„Doch ist es wahr. Und dann – .“
Rolf unterbrach sie. „Sie wird es abstreiten und sagen, dass du mir so etwas niemals verraten hättest.“
„Da es stimmt, muss sie es wohl oder übel glauben. Sie wird stinksauer auf mich sein, aber erst mal wird sie auf dich losgehen. Dazu musst du es natürlich ordentlich vorwurfsvoll klingen lassen, obwohl so eine Kleidersünde ein Klacks gewesen wäre, verglichenen mit – . Na, du weißt schon.“
Rolf nickte, und Claudine fuhr fort.
„Sie wird also explodieren, und ich hoffe, richtig. Und wenn sie nicht sofort explodiert, musst du nachlegen, bis sie es tut. Bis sie dir selbst an den Kopf wirft, dass sie glaubt, du hättest eine andere Frau.“
„Und dann?“ Rolf schaute sie an, als wäre sie ein Orakel.
„Und dann erzählst du ihr die Wahrheit. Am besten genauso, wie du sie mir eben erzählt hast. Aber eben erst nachdem sie sich quasi ins Unrecht gesetzt hat mit diesem ungeheuerlichen und ungerechtfertigten Verdacht.“

Der Anruf kam lange nach Mitternacht. Vicky sprach so leise, dass Claudine, die zu aufgewühlt gewesen war, um gleich einzuschlafen, und deshalb noch gelesen hatte, sich den Telefonhörer ans Ohr pressen musste.
„Danke“, sagte sie und ließ sich von Claudines gespielter Unwissenheit nicht täuschen. „Ich weiß genau, dass du mich nur verpetzt hast, damit ich ausraste. Und das ist natürlich passiert. Jetzt ist er gerade im Bad. Wir müssen uns noch sortieren. Aber ich kann endlich wieder durchatmen, jedenfalls bis ich anfange zu hyperventilieren wegen Rolfs Schulden. Ich drücke dich ganz doll.“
Sie legten auf.

Am Montagvormittag war Carsten nicht im Büro, und Claudine bat Selma, die übersetzten Haikus. auf seinen Schreibtisch zu legen. Mittags holte Perschke sie an der gewohnten Stelle zur Fahrstunde ab.

Bevor Claudine sich hinter das Steuer setzte, warf sie eine Papprolle auf den Rücksitz.
„Können wir die Strecke fahren, die wir letztens genommen haben? Da war so ein Bilderrahmengeschäft. Ich würde gerne etwas abgeben.“
„Ich komme mir bald vor wie ein Kurierdienst“, sagte Perschke. Claudine war heute nicht seine erste Schülerin, die etwas Vorweihnachtliches ganz dringend nebenbei erledigen wollte, aber er war einverstanden.

In dem Laden musste Claudine warten, bis der Inhaber mit der Beratung eines anderen Kunden fertig war, und er beriet sehr sorgfältig, was ja grundsätzlich zu begrüßen war. Danach nahm er sich auch für Claudine Zeit. Sie holte das Diagramm aus der Papprolle, die sie sich aus Webers Fundus an Verpackungsmaterial herausgesucht hatte.
„Interessant“ sagte der Mann nach einem Blick auf die umkringelten Wörter und sich dazwischen kreuzenden Linien in Schwarz und Rot. „Da kommt ja wohl am ehesten ein schwarzer oder roter Rahmen in Frage.“
Er zeigte ihr eine rote Rahmenleiste, riet dann zu einem nicht zu breiten Passepartout, weil schon die Ränder des Blattes weiß geblieben waren. Eine Pappe in demselben Papierweiß, aber relativ dick, damit ein kleiner Schatten auf das Blatt fiel. Als sie sich einig waren, und Claudine ihn auch noch überredet hatte, dass sie das fertig gerahmte Bild schon am Donnerstag abholen könnte, war fast eine halbe Stunde vergangen.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, murmelte sie, als sie wieder in den Wagen stieg.
Perschke machte ein gottergebenes Gesicht. „Ich sehe schon, dass es blühender Frühling sein wird, bis Sie Ihren Führerschein machen.“

Im Lauf der Woche dachte Claudine ein paarmal daran, ihren Hauswirt anzurufen und darüber aufzuklären, dass es sich bei Martins Säumigkeit mit der Miete in Wirklichkeit um das Versäumnis eines Freundes gehandelt hatte. Aber das hätte nur Sinn gehabt, wenn sie gleich dazu gesagt hätte, dass sie, sollte Martin Roth zurückkommen, bereit wäre, aus der Wohnung wieder auszuziehen. Und was würde ein Mensch wie Klausen von dieser Großzügigkeit halten? Er würde sie – im Stillen zumindest – für verrückt erklären. Das konnte ihr zwar egal sein, aber Claudine hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Jedenfalls hatte es Zeit, bis Martin tatsächlich wieder auftauchte – sollte das wirklich geschehen. Seltsamerweise erschien es ihr jetzt, wo sie alles getan hatte, um ihn ausfindig zu machen, jeden kontaktiert hatte, mit dem er möglicherweise Verbindung aufnehmen würde, wie etwas völlig Utopisches. Es war, als hätte sie wochenlang einen Roman gelesen, sich dabei oft so sehr in die Handlung versetzt, dass sie alles um sich vergessen hatte, und jetzt war die Geschichte zu Ende und sie selbst in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman …

Carsten kam persönlich in ihr Büro, um ihr zu sagen, dass er mit den Haikus sehr zufrieden war. Er wäre vermutlich mit jeder Übersetzung zufrieden gewesen, bei der sie die vorgeschriebene Silbenzahl eingehalten hätte.
„Ich verstehe absolut nicht, warum Künzel sie nicht selbst übersetzt hat“, sagte er, nachdem er vergeblich darauf gewartet hatte, dass Claudine eine Bemerkung machte.
„Vielleicht ist es besser, wenn jemand, der nicht im Text steckt, Lyrik übersetzt, die nicht damit verwurzelt sein soll, sondern darauf liegen wie ein vom Baum gefallenes Blatt“, sagte Claudine.
„Aha“, machte Carsten leicht verdutzt und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Das hast du aber eben sehr poetisch gesagt.“
Claudine war durchaus klar, dass sie gerade die vielleicht einmalige Chance vergeben hatte, Künzel eins auszuwischen, ohne sich wegen seiner ständigen Anfeindungen zu beschweren, was immer schlecht ankam, auch wenn man im Recht war. Aber ihr stand der Sinn nicht nach Feindseligkeiten. Sie hoffte nur, dass Carsten ihr dies nicht als vorweihnachtlich bedingte Nächstenliebe auslegte.
Er wollte die Tür öffnen und schien sich erst jetzt an die Bücher zu erinnern, die er unter dem Arm trug. „Das hätte ich fast vergessen. Dabei bin ich doch hauptsächlich deshalb gekommen.“
Er legte drei kürzlich in Frankreich erschienene Novellen auf Claudines Schreibtisch.
„Schau sie dir über die Feiertage mal an, und sag mir dann, was du davon hältst.“
Claudine hielt es für möglich, dass Carsten nur den Vergesslichen spielte, während er sich tatsächlich erst in diesem Augenblick entschlossen hatte, ihr eine Aufgabe zu übertragen, die er üblicherweise sich selbst vorbehielt. Es war eine Auszeichnung, und sie überwog die Enttäuschung. Ein Blick hatte ihr genügt, um festzustellen, dass nichts von Modiano dabei war.

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Leben mit Martin (64)

Claudine dachte, dass Rolf einen Vorwand gesucht hatte, unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Als sie jedoch neben ihm im Auto saß, sagte er lange nichts. Nur während sie an einer roten Ampel warteten, und von beiden Seiten Passanten die Straße überquerten, machte er eine Bemerkung darüber, dass erstaunlich viele Leute jetzt am Abend noch unterwegs seien.
Das Navi, in das er Claudines neue Adresse eingegeben hatte, war gesprächiger.
Nach fünfhundert Metern rechts abbiegen.
Jetzt rechts abbiegen.
Sollte Rolf tatsächlich nur einen Vorwand gebraucht haben, um Vickys Wohnung zu verlassen – vielleicht um später unbelauscht zu telefonieren? Oder würde er gar sein Versprechen nicht halten und nicht zu ihr zurückkehren?

Claudine gab sich einen Ruck und ergriff die Initiative.
„Hör mal, ich dachte, dass Vicky inzwischen mit dir gesprochen hätte, und dass du mich hauptsächlich deswegen nach Hause fährst, weil du mit mir über Vicky sprechen willst.“
Rolf warf ihr einen raschen Seitenblick zu. „Gesprochen? Worüber?“
Claudine biss sich auf die Lippe. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, auch darin, dass Rolf nur darauf wartete, sie würde das Gespräch eröffnen. Jetzt sah es nach einer unerwünschten Einmischung aus, und sie hätte am liebsten einen Rückzieher gemacht, wusste aber nicht wie.
„Dir wird doch wohl nicht entgangen sein, dass Vicky in letzter Zeit nicht gerade glücklich ist“, sagte sie, sich noch alle Möglichkeiten offenlassend.
„Das scheint ja oft so zu sein, dass der Partner es als Letzter merkt, aber ganz so blind bin ich nicht. Ich habe schon bemerkt, dass sie nicht gerade vor Fröhlichkeit sprüht. Sie hat im Geschäft viel am Hals. Leider habe ich gerade auch viel um die Ohren, und es stimmt sicher, dass ich mich zu wenig um sie gekümmert habe. Hat sie sich bei dir beklagt?“
Claudine fühlte die Wut aufsteigen. „Beklagt? Du sagst das, als wäre es nicht ernst zu nehmen. Ein hin und wieder fälliges Beklagen bei der besten Freundin, schon aus Gründen der seelischen Hygiene. Nein, sie hat sich nicht beklagt, Sie hat mir rund heraus gesagt, was sie glaubt.“
Im Profil sah sie, dass Rolf die Stirn runzelte.
„Was sie glaubt? Reden wir über Glaubensfragen? Was glaubt sie denn?“ Rolf gab sich Mühe, die Frage freundlich und leicht amüsiert klingen zu lassen.
„Dass du eine andere Frau hast“, antwortete Claudine ohne Umschweife.
Rolf trat so heftig auf die Bremse, dass der Sicherheitsgurt sich spannte und Claudine schmerzhaft gegen die Brust drückte, als ihr Oberkörper, der Trägheit aller Körper gehorchend, im selben Tempo weiter bewegt werden wollte.
„Dass ich eine andere Frau habe?“ Er schien tatsächlich fassungslos zu sein. Hinter ihnen wurde gehupt, und er wechselte von der Bremse wieder aufs Gaspedal. Seltsamerweise hatte Claudine den Eindruck, dass Rolf irgendwie erleichtert war. Weil die Wahrheit endlich herauskam? Er lachte sogar kurz auf.
„Was für ein Unsinn! Wir kommt sie nur auf so etwas?“ Rolf schüttelte den Kopf.
Claudine hätte ihm gerne geglaubt, aber nachdem sie sich so weit vorgewagt hatte, konnte sie sich nicht damit zufrieden geben, dass er es mit zwei Sätzen leugnete. „Also ist es keine andere Frau? Was ist es dann?“ fragte sie.
„Nichts. Vicky bildet sich das ein. Und du bestärkst sie womöglich noch darin – nur weil ich abends oft unterwegs bin, um meine Brötchen zu verdienen. Wahrhaftig nicht zu meinem Vergnügen! Und da denkt ihr euch gleich die hirnrissigsten Geschichten aus?“
Claudine bekam Herzklopfen vor Wut. Diese Männerstrategie, Angriff als beste Form der Verteidigung, brachte sie auf die Palme.
„Wir denken uns überhaupt nichts aus. Und auch Vicky bildet sich nichts ein, wenn sie feststellt, dass du abends mehr Kunden betreuen musst, als das beim besten Willen glaubhaft ist.“
Sie hatten Claudines Straße erreicht. Wenn Rolf jetzt in zweiter Spur hielt, wenn er den Motor laufen ließ und nur darauf wartete, dass sie ausstieg, war das Gespräch beendet.
Sie haben Ihr Ziel erreicht, sagte das Navi.
Rolf fuhr weiter, setzte in eine Parklücke und drehte den Zündschlüssel.
„Verdammt noch mal!“ Er zündete sich eine Zigarette an und ließ das Seitenfenster einen Handbreit herunter. „Auf die Idee, dass eine Frau dahinter steckt, kommt sie doch nur wegen dir und Florian. Ich weiß, es ist taktlos von mir, das zu sagen, aber ich kann es mir nicht anders erklären.“
„Ich glaube nicht, dass es für Vicky so naheliegend ist, dich mit Florian zu vergleichen, denn sie hat Florian nie besonders leiden können“, sagte Claudine so ruhig wie möglich.
„Wenn eine Frau auf ihren Mann sauer ist, sind doch alle Männer plötzlich gleich“, entgegnete er rechthaberisch.
Es wurde schnell kalt im Auto. Claudine fror, und sie hatte keine Lust, sich Sprüche anzuhören. Beinahe sehnsüchtig warf sie einen Blick nach hinten, wo die Haustürbeleuchtung auf die Granitstufen und den eisernen Stiefelkratzer schien. Sie war müde. Sie wollte in ihr Bett. – Sie riss sich zusammen und widersprach.
„Ich könnte jetzt sagen: Umgekehrt. Du machst gerade alle Frauen gleich.“
Rolf holte Luft, aber Claudine ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Jetzt hör mir mal eine Minute zu. Vicky ist todunglücklich. Sie leidet wirklich. Und wenn es wahr ist, dass da keine andere Frau ist – wenn es einen anderen Grund dafür gibt, warum du dauernd unterwegs und mit den Gedanken sonst wo bist, dann solltest du ihr das erklären, und zwar glaubhaft. Am besten sagst du ihr die Wahrheit. Denn wenn du sie einfach leiden lässt, nur um ihr irgend etwas nicht zu erzählen, egal aus welchem Grund, dann bist du nicht weniger ein Scheißkerl, als wenn du sie betrügst. Betrug findet nicht nur im Bett statt.“
Rolf, der ihr stets wie ein zahmer Tanzbär vorgekommen war, ein Typ, den viele Frauen als knuddelig bezeichnen würden, oft unterhaltsam, manchmal sogar witzig, immer aber unerschütterlich; Rolf, an dem sie, wenn überhaupt etwas, nur störte, wenn er hin und wieder zu verbindlich war, als wolle er einem etwas verkaufen – sie wusste nie, ob das eine Berufskrankheit war oder zu seinem Charakter gehörte und ihn zum Beruf befähigte – Rolf sackte vor ihren Augen in sich zusammen.
„Erklären? Die Wahrheit? Das kann ich nicht. Und würde ich es versuchen, würde Vicky es nicht verstehen.“ Er strich sich mit einer müden Bewegung über die Augen.
„Wenn du es ihr nicht erklären kannst, kannst du es vermutlich mir auch nicht erklären. Und damit hätte dieses Gespräch sich erledigt“, sagte Claudine kühl und machte Anstalten auszusteigen.
„Warte!“ sagte Rolf schnell. „Ich werde versuchen, es Dir zu erklären. Mal sehen, ob Du mir dann nicht beipflichtest, dass ich Vicky unmöglich die Wahrheit sagen kann.“
Claudine zog die Hand vom Türgriff zurück und wartete.
Er vermied ihren Blick, während er mit sich rang. Endlich sagte er: „Ich bin finanziell am Ende. Ich habe Mist gebaut, und um es wieder hinzubiegen, habe ich noch mehr Mist gebaut. Mir steht das Wasser bis zum Hals. Ich habe Schulden und weiß kaum noch, wie ich die Löcher stopfen soll. Wenn ich eine Eidesstattliche Erklärung abgeben muss, bin ich meine Stellung los. Und du kennst Vicky. Für so etwas hat sie kein Verständnis. Und das nehme ich ihr nicht mal übel. Ich begreife ja selbst nicht, wie es so weit kommen konnte.“
Claudine war zu überrascht, um sofort zu antworten. Sie versuchte, einen Zusammenhang zwischen nächtlichem Unterwegssein und finanziellen Schwierigkeiten herzustellen. Rolf würde ja wohl nicht nachts Tankstellen ausrauben, um zu Geld zu kommen.
„Vielleicht unterschätzt du Vicky“, sagte sie ziemlich lahm, denn soviel war klar: Vicky, die Tüchtige, hatte nur begrenztes Verständnis, wenn es darum ging, dass andere ihr Leben nicht im Griff hatten.
„Es sollte mich wundern, wenn ich sie in diesem Punkt falsch einschätze“, sagte Rolf, und nach einer Pause, in der er offenbar allen Mut zusammennahm, erzählte er den Rest. „Es fing ganz harmlos an. Ich musste einen Kunden zum Essen einladen. Du weißt ja, dass ich bei solchen Gelegenheiten Vicky mitgenommen habe, wenn es so aussah, als würde es kein hoffnungslos langweiliger Abend für sie werden, und vor allem dann, wenn auch der Kunde in Begleitung war. Du kennst das. Du und Florian habt es genauso gemacht. Aber dieser Typ war ohne Begleitung, und er hätte Vicky nicht gefallen. Ich fand ihn auch nicht sonderlich sympathisch, aber Geschäft ist Geschäft. Jedenfalls nach dem Essen wollte er partout in die Spielbank. Es sah so aus, als hinge davon ab, ob er am nächsten Tag abschließt oder nicht. Für mich hing eine fette Provision dran. Jedenfalls ließ ich mich durch seine großkotzige Art dazu verleiten, auch Einsätze zu machen, höher als ich das unter anderen Umständen getan hätte. Überhaupt sind Spielcasinos nicht meine Welt. Oder jedenfalls waren sie es nicht.“
„Du hast also hoch gesetzt und hast verloren“, folgerte Claudine, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.
Rolf lachte unfroh. „Im Gegenteil. Ich habe gewonnen. Mein Kunde leider nicht. Und das hat ihm dermaßen die Laune verdorben, dass er mich am nächsten Tag anrief, um mir zu sagen, er müsse sich alles noch mal durch den Kopf gehen lassen. Ich hörte nie wieder von ihm. Keine Ahnung ob und bei wem er seine Yacht versichert hat. Es war ärgerlich aber nicht schlimm, um so weniger, als mein Spielgewinn höher war, als was ich an ihm verdient hätte. Glück, wenn man so will. Misstrauisch hätte ich werden sollen, als ich mich fragte, warum ich Vicky nichts davon erzählte. Aber die Antwort gab ich mir auch gleich selbst. Sie hätte sich darüber aufgeregt, wie ich so hoch hatte spielen können. Es hätte ja auch umgekehrt kommen können, und ich wäre den Kunden und das Geld noch dazu los gewesen. Statt dessen fing ich an, mich mit Roulette zu beschäftigen. Zunächst theoretisch. Es interessierte mich als Zahlenspiel, als System. Ich hatte Glück gehabt, aber ich hätte noch mehr gewinnen können, wenn ich nach einem besseren System gespielt hätte, statt nur den Einsatz immer wieder zu verdoppeln.“

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Leben mit Martin (63)

Als Claudine sich von Rubens verabschiedet hatte, war die frühe Winternacht hereingebrochen. Sie hatten ihre Telefonnummern ausgetauscht, und Claudine war sicher, dass Rubens sich melden würde, sobald er etwas von Martin hörte. Der letzte und wohl auch stärkste Faden war nun ausgelegt. Jetzt konnte sie wirklich nichts anderes mehr tun, als warten. Und das waren auch die Worte, die sie später am Abend Barbara gegenüber gebrauchte, nachdem sie ihr am Telefon von der Begegnung mit Rubens erzählt hatte.

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, stürzte Claudine sich in den Einkaufstrubel, denn das duldete nun keinen Aufschub mehr. Es war der vorletzte Samstag vor dem Fest, und entsprechend war das Gedränge vor und in den Geschäften. Leider hatten die Schaufensterdekorationen und weihnachtlich geschmückten Verkaufstische keine inspirierende Wirkung. Claudine schwamm im Strom der Käufer ohne die geringste Idee, was sie ihren Eltern schenken könnte. Sie sah jede Menge Geschenke für Menschen, die nicht nur schon alles hatten, was sie brauchten, sondern auch gelernt hatten, Überflüssiges zu schätzen. Aber dazu zählten die Lassalles nun einmal nicht. Ob sie glücklich waren oder unglücklich, in jedem Fall waren sie wunschlos, sah man einmal davon ab, dass sie – wie wohl jeder – hofften, gesund zu bleiben.
Schließlich stand Claudine tatsächlich vor dem Schaufenster eines Sanitätshauses. Schenken Sie Wohlbefinden zum Fest! forderte die rote Schnörkelschrift auf einem goldgerahmten Schild, und zwischen der Unterwäsche aus Angorawolle waren glitzernde Sternchen verstreut. Claudine hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihre Eltern sich darüber sogar freuen würden. Aber sie weigerte sich, ihnen Rheuma-Unterwäsche zu kaufen.
So endete auch diese Expedition, die man wegen der überall herrschenden Hektik beim besten Willen nicht als Einkaufsbummel bezeichnen konnte, nach Stunden ohne Ergebnis. Als Claudine die Füße so wehtaten, dass sie ohnehin an nichts anderes mehr denken konnte als daran, aus ihren Stiefeln herauszukommen, fiel ihr gerade noch ein, dass sie die Wohnung nicht einmal andeutungsweise weihnachtlich geschmückt hatte. Und obwohl sie kein Bedürfnis danach fühlte, kam ihr dieser Verzicht doch wie ein Verstoß gegen die guten Sitten vor. Sie betrat ein Floristik-Geschäft und erstand ein weihnachtliches Ikebana-Gesteck. Es löste ähnliche Gedanken bei ihr aus wie nicht-japanische Haikus, aber es war einfach schön, und die Keramikschale war so schwer, dass sie Claudine den perfekten Vorwand lieferte, für den Heimweg ein Taxi zu nehmen.

Zu Hause stellte sie die Schale auf den Wohnzimmertisch, machte sich einen Tee, nahm aus ihrer schmalen Aktentasche die übersetzten Haikus, die sie sich ausgedruckt hatte, um sie sich am Wochenende noch einmal in Ruhe durchzulesen und mit den französischen Texten zu vergleichen, und zündete die einzige Kerze in der Schale an, eine dicke eckige Kerze, deren Höhe perfekt mit den darum gesteckten Zweigen harmonierte, so dass man sich fragen konnte, ob es überhaupt richtig war sie anzuzünden und diese Harmonie zu stören.
Mit einem Seufzer der Erleichterung legte sie die Füße auf die Couch, las die Verse, und plötzlich erschlossen auch sie sich in ihrer ganzen Harmonie, jeder in sich und alle miteinander. Claudine fand nichts mehr daran zu verbessern und versank bald wieder in die Betrachtung der sich in einem Lufthauch wiegenden Flamme, die den sich ebenfalls wiegenden Schatten eines Kiefernzweiges auf den Tisch warf. Dabei fiel ihr ein, dass Florian das Buch, das er ihr hatte heraussuchen sollen, nicht geschickt hatte. Und sie selbst hatte bis jetzt nicht mehr daran gedacht. Sie hatte es ja auch nicht gebraucht, wie sie inzwischen wusste.
Dann schweiften ihre Gedanken zu dem Gespräch ab, das sie vor einer Woche mit Vicky geführt hatte. Eher war es ein Monolog gewesen, in dem Vicky sich über all die Ideen erging, die in jüngster Zeit wie Kraut geschossen sein mussten, Unkraut im vom Grübeln zerfurchten Kopf einer eifersüchtigen Frau. – Oder doch kein Unkraut? Jedenfalls nicht alles? – Etwas hatte sich ausgesät, feine Wurzeln in ihren eigenen Kopf getrieben, wie Claudine feststellen musste. Hier und da ein Gedankenwinzling. Wie ein Gärtner fragte sie sich: ausreißen oder wachsen lassen und sehen, was daraus wird? Wenn sie morgen zu Rolfs Geburtstag ginge, und ihre Freundin wäre wieder die alte fröhliche Vicky, würden diese Gedanken von selbst verkümmern.

Aber so war es nicht.
Claudine hatte vermutet, dass Vicky für Rolf eine richtige Party geben wollte, also das, was Vicky unter einer Party verstand: viele Leute, Musik, jeder musste immer ein gefülltes Glas in der Hand haben. Natürlich auch ein Büffet – gut aber eher nebensächlich.
Im Jahr zuvor hatte Rolf in seine Wohnung eingeladen, und wenngleich die Geburtstagsfeier diesmal bei Vicky stattfand, kam sie Claudine wie eine Wiederholung vor, fast wie „Der 90. Geburtstag“, den alle sich immer am Silvesterabend anschauen, nur dass es kein Dinner für eine Person war. Die anderen Gäste lebten und waren anwesend, dieselben wie im letzten Jahr. Rolf und Vicky, Rolfs Eltern, Vickys Eltern und eine schöne Frau, bei deren Anblick Claudine unwillkürlich Mulattin dachte. Wäre sie ihr nicht im Jahr zuvor als Rolfs Schwester vorgestellt worden, wäre ihr diesmal das Herz stehengeblieben, zumal sie neben Rolf saß, genau wie im letzten Jahr. Auch da hatte sie Mulattin gedacht, obwohl der Begriff rassistisch konnotiert war. Dabei klang das doch wie Milchkaffee, und eben diese Farbe hatte die makellose Haut dieser Schönheit. – Sie nehmen uns unsere schönsten Worte. Nicht die Worte mussten verschwinden, sondern die Nazis und sonstigen Rassisten.
„Adoptivschwester?“ hatte sie Vicky in einem unbelauschten Moment damals gefragt.
„Nein, seine fünf Jahre ältere Halbschwester“, hatte Vicky lächelnd geantwortet.
Sie mochte Rolfs Eltern sehr.
Dieselbe Tischordnung also. Sie sprachen sogar über dasselbe, nämlich über das Essen. Und das war nun wirklich der Gipfel. Auf dem Tisch standen dieselben Speisen, genauso dekoriert, nur eben auf Vickys Porzellan.
„Hast du gekocht, Rolf?“ fragte Claudine.
„Nein, Vicky.“ Er machte die Geste, mit der man darauf hinweist, dass einem anderen die Ehre gebührt. „Sie hat einen Kochkurs bei mir absolviert. Das hier ist sozusagen ihre Diplomarbeit.“
Er lachte. Es gefiel ihm. Er schien stolz zu sein, auf sich selbst und auf Vicky, die den Dialog nicht gehört hatte oder ignorierte. Sie reichte gerade Rolfs Mutter die Sauciere, setzte sich wieder zurecht, wünschte allen einen guten Appetit. Ihre Augen begegneten denen von Claudine. Verzweiflung stand darin.
Oh, mein Gott, dachte Claudine, sie ringt ihm Zeit ab, indem sie ihn bittet, ihr das Kochen beizubringen. Vicky hatte noch nie gern gekocht, aber das Essen war ausgezeichnet. Und als sie genug über das Essen gesprochen hatten, waren die zu milden Winter an der Reihe, auch wie im letzten Jahr. Beim Dessert stießen sie mit Champagner auf Rolf an. Nicht sehr spät fand der Abend sein Ende. „Ich fahre dich nach Hause“, sagte Rolf, als er Claudine in den Mantel half.
„Das können wir doch machen, dann musst du nicht raus. Wir haben diese junge Dame schon nach Hause gebracht, als ihr noch regelmäßig nach jedem Negerkusswettessen schlecht wurde und wir deshalb einen kleinen Eimer an Bord hatten“, sagte Vickys Vater launig.
„Ich muss sowieso noch mal ans Auto. Hab′ was vergessen“, entgegnete Rolf und griff bereits nach seiner eigenen Jacke.
Vicky stand daneben. Claudine konnte sehen, dass es sie Kraft kostete, ihn zu fragen.
„Kommst du danach zurück?“
Rolf schaute sie irritiert an, lächelte dann aber und küsste sie schnell. „Natürlich komme ich zurück.“

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