„Wie weit bist du mit Packen?“ fragte Florian ohne Begrüßung.
Claudine musste lächeln. Es war nicht sein erster Anruf heute, und es war der achte, seit sie sich in Nikolassee voneinander verabschiedet hatten.
„Ich bin fertig“, sagte sie. „Ich säße schon im Taxi auf dem Weg nach Hause, wenn nicht Herr Roth gekommen wäre, als ich gerade losgehen wollte. Stell dir vor, was für ein Glück! Ein paar Minuten später, und er hätte hier vor verschlossener Tür gestanden, ohne zu ahnen, was los ist. Er war natürlich einigermaßen schockiert, hier jemanden anzutreffen.“
„Dein Vormieter? Das ist ja wirklich ein bemerkenswerter Zufall. Fast wie Kino. Macht er Schwierigkeiten?“ Florians letzter Satz hatte alarmiert geklungen.
„Nein. Nein, überhaupt nicht“, beruhigte ihn Claudine.
Sie fühlte sich jetzt etwas freier, denn Martin war hinausgegangen, und sie sah ihn durch die offene Tür im Schlafzimmer verschwinden. „Ich zeige ihm gerade noch, was ich hier umgeräumt habe. Ich meine, es wäre ja Unsinn, wenn er sich jetzt ein Hotelzimmer nimmt, und hier steht die Wohnung leer. Noch ein paar Minuten, und dann komme ich.“
„Ja, ja“, entgegnete Florian so zerstreut, wie er sich immer anhörte, wenn er fieberhaft überlegte. „Hör mal, lass das mit dem Taxi. Ich setze mich gleich ins Auto und hole dich ab.“ Er ließ Claudine keine Gelegenheit, zu widersprechen, sondern hatte aufgelegt, bevor sie etwas sagen konnte.
Sie folgte Martin ins Schlafzimmer. Er hatte seine Wildlederjacke ausgezogen, über die Stuhllehne gehängt und stand nun mitten im Zimmer, den Blick auf die Zeichnung über dem Bett gerichtet. Als er sich bei Claudines Eintreten umdrehte, lag ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, gerade ausreichend die Andeutung von Grübchen in seinen Wangen sichtbar zu machen.
Himmel, was für Augen! Blaue Saphire. – Dass sie hart und kalt werden konnten, hatte Claudine in der ersten Minute ihrer Begegnung gesehen. Jetzt schienen sie Sonnenlicht eingefangen zu haben. Unwillkürlich schaute Claudine zum Fenster. Von Sonne war nichts zu sehen.
Vielleicht war es das, oder Florians Anruf hatte bewirkt, dass sie den Drang losgeworden war, ständig zu reden. Sie musste sich sogar einen Ruck geben, mit ihren Erklärungen fortzufahren.
„Bekommen Sie keinen Schreck, wenn Sie den Kleiderschrank öffnen. Er ist leer. Ihre Sachen habe ich in die Truhen gelegt.“
Martin nickte. „Die Truhen möchten Sie sicher mitnehmen. Sie sind sehr schön. Ich werde sie nachher auspacken.“
„Wenn Sie den Christbaumschmuck suchen, – auf der rechten Schrankseite ist alles, wo es war. Ich werde in etwa einer halben Stunde abgeholt. Ich gebe Ihnen am besten meine Telefonnummer. Sie werden vielleicht noch Fragen haben, und wir müssen dann verabreden, wann ich meine restlichen Sachen hole.“
Claudine holte ihr Filofax aus der Handtasche. Darin befanden sich noch einige von den Visitenkarten, die Florian und sie vor drei Jahren hatten drucken lassen, ohne oft Verwendung dafür zu haben. Üblicherweise benutzte nur Florian Visitenkarten und dann die geschäftlichen. Auf die Rückseite schrieb sie ihre Mobilnummer und gab Martin die Karte.
„Fällt Ihnen noch etwas ein, was Sie mich fragen möchten?“
Gott, wie ungeschickt! Das hörte sich ja an, als würde sie nur auf die Gegenfrage warten. Und wenn er das dächte, hätte er sogar recht.
„Im Augenblick nicht“, sagte er, aber dann schien ihm doch noch etwas einzufallen. „Das Ikebana-Gesteck im Wohnzimmer, nehmen Sie das mit?“
Claudine war überrascht. Darüber hatte sie nicht nachgedacht, vielleicht, weil sie, seit sie in die Wohnung zurückgekehrt war, die Kerze kein einziges Mal angezündet hatte. Sie verneinte.
„Wenn ich es behalten darf, werde ich den Baum gar nicht aufstellen. Ich hatte hier noch nie einen Weihnachtsbaum. Können Sie ihn nicht doch gebrauchen?“
„Ich weiß nicht.“ Sie wusste es wirklich nicht. Sie hatte auch keine Ahnung, was Florian zu diesem Martinsbaum sagen würde. Vielleicht hatte er ja inzwischen eine Tanne besorgt. Sie hatten nicht darüber gesprochen.
Weihnachten war da und gleichzeitig weit weg.
„Ich werde meinen Freund fragen, wenn er kommt, ob er schon einen Baum besorgt hat“, sagte Claudine. „Eigentlich schade, wenn Sie Ihren nicht aufstellen. Der Weihnachtsschmuck ist sehr schön.“
„Er ist alt. Ich bewahre ihn zur Erinnerung auf.“
„Gerade fällt mir noch der Staubsauger ein. Den muss ich Sie eventuell bitten, wieder herauszurücken. Den hat eine Freundin mir geschenkt. Auch wenn ich ihn jetzt nicht mehr brauche, muss ich sie doch fragen, ob sie es mir nicht übelnimmt, wenn ich ihn hierlasse“, sagte Claudine.
In diesem Moment schrillte die Türglocke. Florian konnte nicht gefahren, er musste tief geflogen sein. Oder er war schon halb auf dem Weg gewesen und hatte aus dem Auto angerufen.
Solange sie lebte, hatten sich nie zwei Männer um Claudine geprügelt. Sie hätte behauptet, dass sie darauf auch nicht erpicht war. Jedenfalls, als Florian und Martin sich gegenüberstanden, lag die Möglichkeit einer Schlägerei so spürbar in der Luft wie die Elektrizität kurz vor einem Gewitter. Und zweifellos wäre es Florian gewesen, der angefangen hätte. Etwas, das Claudine ihm nie zugetraut hätte. Zwar streckte er Martin die Hand entgegen, aber es war eher eine Herausforderung, der Händedruck ein kleines Kräftemessen.
Lag das an diesem Baum? War der irgendwie mit einem Fluch belegt?
Vorhin hatten sie und Martin sich daneben fast in die Haare bekommen, und jetzt standen sich Florian und Martin an derselben Stelle wie Kampfhähne gegenüber.
„Können wir?“ fragte Florian Claudine ziemlich barsch.
„Natürlich können wir. Hätte ich nicht auf dich warten sollen, wäre ich längst unterwegs“, antwortete sie. „Herr Roth hat mich gefragt, ob wir den Weihnachtsbaum mitnehmen möchten. Da ich das Adventsgesteck hierlasse, genügt ihm das als Weihnachtsdekoration. Brauchen wir einen Baum, oder hast du schon einen besorgt?“
Claudine fragte es möglichst beiläufig, und die Ablehnung stand so deutlich in Florians Gesicht, wie sie es vorausgeahnt hatte.
Trotzdem musste er zugeben, dass er noch keinen Baum gekauft hatte. „Nein, ich dachte, das könnten wir jetzt gemeinsam machen.“
Dann begegneten sich die Blicke der beiden Männer, und der von Martin sagte deutlich: Jetzt werden wir ja sehen, ob du ein Arsch bist.
„Wir können aber auch diesen mitnehmen, wenn er hier nur im Weg ist“, sagte Florian.
„Na, dann – “ munterte Claudine ihn auf und griff sich einen der Koffer.
„Ich helfe gerne beim Runtertragen““, bot Martin an.
„Danke, das schaffen wir schon“, sagte Florian, wuchtete sich den Baum unter den linken Arm und griff mit der rechten Hand den zweiten Koffer.
Claudine hielt ihm die Tür auf.
Florian hatte den Phaeton schräg in eine zu kleine Parklücke gesetzt. Am Heiligabend war hoffentlich Schonzeit, und tatsächlich hatte in den paar Minuten kein Ordnungshüter einen Strafzettel hinter den Scheibenwischer geklemmt.
Während er den Baum in den Kofferraum verfrachtete, stand Florian mitten auf der Straße. Der Fahrer eines grün-weißen Minis wartete geduldig. Frieden auf Erden. Florian knallte den Kofferraumdeckel zu, der allerdings kaum ein Geräusch von sich gab, denn Knallen war bei einem Phaeton nicht vorgesehen. Er ließ den Mini vorbei, bevor er zurücksetzte, damit sie die Tür weit genug öffnen konnten, um die Koffer auf die Rückbank zu legen.
Claudine hatte erwartet, dass Florian, kaum dass sie im Auto säßen, eine ganz Liste von Bedenken hervorzaubern würde, warum es verkehrt war, Martin einfach die Schlüssel zu geben und ihn in der Wohnung bleiben zu lassen. Statt dessen sagte er nur: „Warum habe ich bloß das Gefühl, gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein?“
War es so? Claudine ließ ihre Gefühle und Gedanken der letzten Minuten, bevor Florian gekommen war, Revue passieren. Nein, so war es nicht. Auch wenn Florian sie nicht abgeholt hätte, hätte sie sich Minuten später ein Taxi gerufen. Wenn sie allerdings vor zwei Tagen nicht zu Florian gegangen wäre, wenn es die Nacht danach nicht gegeben hätte, wenn also alles noch so gewesen wäre, wie vor drei Tagen, dann allerdings –
„Ich weiß nicht, warum du dieses Gefühl hast“, sagte sie und dachte: Wenn wir in dem grün-weißen Mini säßen, die piekenden Fichtenzweige im Genick, frierend, weil ein Seitenfenster wegen der Länge des Baumes offen bleiben musste, würden wir uns jetzt vielleicht streiten. Große Limousinen der oberen Luxusklasse hatten eben doch eine ungemein beruhigende Wirkung. Das heißt, eigentlich war Claudine gar nicht ganz so ruhig, wie sie tat. Tief in ihr hüpfte etwas wie ein bunter Flummi. Florian hatte nicht nur gesagt, er wäre eifersüchtig. Er war es wirklich. Eine völlig neue Erfahrung, und sie gefiel ihr, auch wenn sie nicht vorhatte, sie in Zukunft auszuprobieren wie ein neues Spielzeug. Wenn man gerade das Gefühl hat, dass alles ist, wie es sein soll, macht man keine Experimente.
Sie stellte sich vor, wie sie den Baum aufstellen und schmücken würden.
Sie stellte sich Silvester in London vor.
In Nikolassee knirschte der Kies der Auffahrt unter den Reifen.
Sie war wieder zu Hause.
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